Leseproben

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Das leere Grab

Prolog

 

Mai 2022

Shirling, England

 

Es war ein eher unscheinbares Geräusch, das der teure Geländewagen von sich gab, als er über die scharfkantigen Felsen glitt und den Berghang hinabstürzte. David Bainbridge saß auf einer Bank, keine zwanzig Meter von dem Punkt entfernt, an dem das Auto durch die Planken brach. In der einen Hand hielt er das Eiersalatsandwich, das ihm seine Frau am Morgen eingepackt hatte, in der anderen die Thermoskanne mit dem schwarzen Kaffee, den er laut Doktor Garrett nicht mehr trinken sollte. Etwas von dem Eiersalat löste sich und fiel auf die beige Cordhose. „Dabei wollte ich in Ruhe hier sitzen und den Sonnenuntergang ansehen“, murmelte er und stellte die Thermoskanne neben sich auf die Bank. Mit zusammengekniffenen Lippen blickte er auf den Klecks Eiersalat auf seinem Hosenbein und schnipste ihn fort. Dann nahm er das ordentlich zusammengefaltete Brotpapier und schob das restliche Sandwich hinein. Er schraubte den Verschluss auf die Kanne, verpackte alles in seinem Rucksack und stand auf. Eine Möwe kreiste über ihm und stieß einen lauten Schrei aus, bevor sie weiterflog. David kratzte sich am Kopf und sah der Möwe hinterher, bis sie ein weißer Punkt am Horizont war und schließlich aus seinem Sichtfeld verschwand. Endlich wandte er seinen Blick dem Geländewagen zu, der ziemlich verbeult ein ganzes Stück unter ihm lag.
„Das bringt eh nichts mehr“, sagte er, machte sich aber dennoch an den Abstieg.
Der Pfad hinunter war steinig und David rutschte mehrmals aus. Einmal landete er fast auf dem Hosenboden. Fluchend blieb er stehen und wischte sich mit seinem Stofftaschentuch über die Stirn. Während er das Taschentuch wieder zusammenlegte, und in seiner Hosentasche verstaute, sah er erneut zum Wagen hinunter. In dem Auto war keine Bewegung zu erkennen. Er warf einen Blick zurück zu seiner Bank, auf der er eben noch friedlich gesessen hatte. Seufzend ging er weiter. Noch bevor er die Aufprallstelle erreichte, sah er, dass die Hecktür des Range Rover einen Spalt offenstand. Als er näher herantrat, bemerkte er darin einen etwa achtjährigen Jungen, der stark am Kopf blutete. Im Inneren des Fahrzeugs war sonst niemand zu sehen. David blieb stehen und überlegte. Irgendetwas stimmte hier nicht, das gab ihm das Stechen seiner Blase deutlich zu verstehen. Möglicherweise lag es aber auch an dem Kaffee, den er nicht hätte trinken sollen. Er zupfte an seinem Ohrläppchen und drehte sich einmal im Kreis. Außer ihm war niemand hier. Er gab einen Brummton von sich und näherte sich weiter dem Wagen. Als er nahe genug herangegangen war, umrundete er den Geländewagen einmal. „Könnte noch fahrtüchtig sein. Aber wo ist der Fahrer?“
Er bog die Hecktür weiter auf und stupste den Jungen an der Schulter an. „Hey, du, hörst du mich? Hast du eines von diesen Handys?“
Der Kleine war bewusstlos. Das war ungünstig. Jetzt würde er ihn nach einem Telefon durchsuchen müssen, damit er Hilfe rufen konnte. Und bald wurde es dunkel. David ließ den Rucksack von seinen Schultern gleiten und fasste in den Wagen hinein. Als er den Kleinen abzutasten begann, sah er, dass die Hände des Kindes auf dem Rücken zusammengebunden waren. Ruckartig fuhr er zurück und schlug sich dabei den Kopf am Wagen an.
„Ach, verdammt“, rief er und massierte sich die entsprechende Stelle. Erneut sah er hinauf zu seiner Bank und wünschte sich, er hätte sein Sandwich gegessen und sich um seinen eigenen Kram gekümmert. Schritte erklangen hinter ihm. Bevor er sich umdrehen konnte, presste ihm jemand schmerzhaft einen harten Gegenstand in seine Nieren. „Du hättest auf deiner Bank sitzen bleiben sollen, alter Mann.“
Beim Klang der Stimme weiteten sich Davids Augen und seine Blase wählte genau diesen Moment, um ihren Job zu kündigen. Das Letzte, das er spürte, als er den Knall des Schusses hörte, waren die nassen Hosen, in denen er starb.

 

*

 

August 2022

England

 

Siebzehn Stunden und vierzig Minuten. Mehr Zeit habe ich laut Karten-App nicht, um über den Rest meines Lebens zu entscheiden. Wie ich weitermachen soll. Ob ich überhaupt weitermachen will. So lange dauert die Fahrt von Landshut durch England bis zu dem Landsitz meiner Schwiegereltern in Northumberland. Falls ich die ganze Strecke auf einmal fahre. Was Ashley und Lyndon Harper in Anbetracht der Situation von mir als guter Schwiegertochter erwarten. Doch das ist keineswegs mein Plan. Ich brauche Zeit, um nachzudenken. Um mir meiner Gefühle klarzuwerden. Ich habe mich absichtlich gegen einen Flug entschieden, da ich mir von der langen Fahrt eine Erleuchtung erhoffe. Und ein kleines Abenteuer. Als würde ich den Jakobsweg laufen. Nur, dass ich eben mit dem Auto fahre. Und das nicht durch malerische französische Dörfer und herrliche spanische Landschaften, sondern durch das verregnete Heimatland meines Mannes Julian, welches die letzten elf Jahre ebenso meine Heimat gewesen war. Vor unserer Trennung im Juli und meinem Umzug von London zurück nach Landshut, wo ich seitdem bei meinem Zwillingsbruder Atticus lebe, der sich gestern Abend dazu bereit erklärt hatte, mit mir quer durch England zu fahren.
Ein Blick auf meine Uhr verrät mir, dass es bald Mittag ist. Ich sehe mich um und frage mich, wo ich bin. Ich sehe ein Schaf, zwei, drei, dutzende. Nach einer Weile sehe ich sie nicht mehr, obwohl sie überall sind. Die Erde ertrinkt unter den Wassermassen, die seit Stunden aus den alles erdrückenden Wolkengebilden strömen. Von Spiritualität und Abenteuer bisher keine Spur. Nur ein langweiliges, unendlich scheinendes Irgendwo in Englands ländlichem Nirgendwo.
Mit der Zungenspitze fahre ich mir über meine spröden Lippen und schmecke den Lippenstift, den ich aufgetragen habe. Summerwine heißt die Farbe, glaube ich, mich zu erinnern. Ich habe sie vor wenigen Wochen in einem Laden in Camden entdeckt. Nur ein paar Tage vor dem Streit mit Julian. Dem Streit, der meine gesamte Existenz infrage zu stellen gewagt hat und dessentwegen Atticus und ich nun auf dem Weg nach Northumberland sind.
Ich werfe einen Seitenblick auf meinen Bruder, der wortlos neben mir sitzt, seit wir in Dover von der Fähre gerollt sind. Sein Mund bewegt sich lautlos, während er in einem seiner Manuskripte liest. Das rotblonde Haar ist welliger als sonst, wie immer, wenn es feucht geworden ist. Seine Hand fährt über seinen Nacken, dann seufzt er und lässt sie wieder in seinen Schoss sinken. Seine Hände sind weich, mit langen Fingern, die sich zaghaft wie ein Schmetterling auf allem niederlassen, was er anfasst. Als Kontrast zu seinen gepflegten Fingernägeln sticht der Knöchel unter seinem linken Mittelfinger geschwollen hervor. Manchmal hat er dort eine wunde Stelle, vor allem, wenn er abwesend daran knabbert. Weil ihm die passenden Worte fehlen. Beim Schreiben wie im Leben. Ich konzentriere mich wieder auf die Straße, obwohl es nichts gibt, was meine Konzentration verdient hat.
Wie aus dem Nichts schießt ein Raubvogel heran und zerplatzt an der Windschutzscheibe. Die Straße vor mir verschwindet hinter einem roten Schleier. „Scheiße“, schreie ich und reiße das Lenkrad herum. Der Audi schlingert. Ich höre, wie Atticus mit dem Kopf gegen das Seitenfenster knallt. Ein weiterer Schlag erschüttert das Auto. Einer der Reifen platzt. Holpernd kommt der Wagen zum Stehen. Gebannt starre ich auf den sternförmigen Riss in der Windschutzscheibe, auf das dunkelrote Blut. Von dem Anblick wird mein Hals eng und mein Unterleib zieht sich schmerzhaft zusammen. Zittrig atme ich ein und aus.
„Großer Gott, Charlie, bist du okay?“
Ich versuche zu antworten, bekomme jedoch keinen Ton heraus. Atticus reibt stöhnend über seine Schläfe und sagt: „Sieh nicht hin. Schließ deine Augen und denk an etwas anderes.“
Ich nicke. Atticus steigt aus. Ich mache die Augen zu und versuche, die heraufdrängenden Erinnerungen zu unterdrücken. Die Krämpfe in meinem Unterleib werden unerträglich. Tränen schießen mir aus den Augen. Mit dem Unterarm wische ich mir über das Gesicht. Ich höre mich selbst schluchzen. Ich versuche, an etwas anderes zu denken. Aber der Anblick des Blutes lässt mich nicht los. Ich fliehe aus dem Wagen und stolpere blindlings auf die Straße. Der Regen peitscht mir ins Gesicht, durchnässt meine Kleidung. Eine Hupe brüllt mich erbost an.
„Charlie, verdammt“, schreit mein Bruder.
Ein großer Geländewagen rauscht knapp an mir vorbei. Der Fahrtwind zerrt an meinen Haaren, Atticus an meinem Arm. Wir stolpern rückwärts und prallen gegen den Audi. Die Bremslichter des Geländewagens leuchten kurz auf, dann fährt er weiter.
„So ein Idiot“, ruft Atticus.
„Es war meine Schuld. Ich habe nicht geschaut, ob etwas kommt.“
„Mensch, Charlie.“ Atticus sieht mich besorgt an. Seine Haare kleben nass an der Stirn. Eine Beule zeichnet sich bereits an der Stelle ab, mit der er gegen das Seitenfenster geknallt ist.
„Ist schon gut. Was ist mit dem Wagen?“, frage ich.
„Der Reifen ist platt. Wir haben wohl dieses scharfkantige Metallstück dort drüben erwischt. So kommen wir jedenfalls nicht weiter.“
Ich stapfe an den Rand der Straße, betrachte das Metallteil, das unseren Reifen aufgeschlitzt hat. Dann beobachte ich die Schafe, die uns von der Weide aus dämlich anglotzen. Der Regen läuft gemeinsam mit den Tränen über mein Gesicht. Ich hätte gern eine Zigarette, habe jedoch mit dem Rauchen aufgehört. Also kaue ich an meiner Nagelhaut herum.
„Wir sollten zusehen, dass wir Hilfe bekommen. Auf dem Schild da vorn stand, ein Ort namens Shirling ist nur eine halbe Meile in diese Richtung.“
Mein Blick folgt Atticus’ Finger, aber außer mehr Weiden kann ich nichts erkennen.
„Hast du gesehen, was es für ein Vogel war?“
Mein Bruder zuckt mit den Schultern. „Könnte ein Bussard gewesen sein. Ist aber nicht mehr viel zu erkennen.“
„Wir haben nichts zum Abtrocknen dabei und das Gepäck ist im Kofferraum“, stelle ich frierend fest.
Er holt die beiden Reisetaschen. „Bist du sicher, dass du in Ordnung bist?“
„Meine Güte, Atticus. Hör auf, dich wie eine Mutter aufzuführen. Ich bin kein kleines Kind mehr.“
„Okay“, erwidert er und presst seine Lippen zusammen. Schweigend marschieren wir los. Ich will mich entschuldigen. Aber die Worte stecken in meinem Hals fest.

Nach einer Weile tauchen wie aus dem Nichts Häuser auf. Sie ducken sich unter den Schatten der Berge, zwischen denen sie eingekesselt sind. Neben kleinen Cottages liegen ein winziger Supermarkt, ein Pub und eine Tankstelle. Wir schleppen uns die schmale Straße zwischen den Häusern hindurch und bleiben auf dem Marktplatz stehen. Atticus’ blaue Augen sind gerötet, als hätte er zu viele schlaflose Nächte hinter sich. „Gehen wir in den Pub?“, fragt er, als wäre nichts gewesen.
Der Regen hat sich beruhigt und in der ländlichen Stille summen mir die Ohren. Hier draußen ist nichts zu hören, nur unser Atem. Langsam sehe ich mich um. Kein Mensch weit und breit. Nicht einmal ein streunender Hund.
„Lebt hier noch jemand oder ist das eine Geisterstadt?“, frage ich. Atticus schnaubt. Leichtfüßig läuft er um die Pfützen herum und wartet vor der Tür des Pubs. Ich schnalze mit der Zunge und versuche weiterhin, irgendein Zeichen von Leben zu entdecken.
Der Pub befindet sich in einem schönen Backsteingebäude. Auf dem dunklen Schild über der Tür steht in weißen Buchstaben The Squirrel Inn. Auf den schmalen Rasenflächen vor dem Gebäude drängen sich vier Tische mit passenden Bänken aneinander. Ich wünschte, es wäre ein schöner Sommertag und ich könnte mich dort hinsetzen, eine Zigarette anzünden und ein Bier trinken, während die Strahlen der Sonne meine Haut erwärmen. Atticus drückt gegen die Tür.
„Ist offen“, ruft er mir über seine Schulter zu und geht hinein.
Ich laufe ihm hinterher und überquere die Straße, erneut, ohne nach rechts und links zu blicken. Das kommt mir hier überflüssig vor. Ich öffne die Tür und betrete den Gastraum. Die dunkle Holzausstattung vermittelt eine gemütliche Atmosphäre. An den Seiten befinden sich kleine Sitznischen, in der Mitte eine lange Holztafel, an der man sicher schnell Bekanntschaften schließen kann und im hinteren Teil mehrere Tische. Atticus steht an der Theke und wartet. Ich lasse mir Zeit und sehe mir die alten Schwarzweißfotografien an, die an der Wand hängen. Bilder von Menschen, die einst Kinder waren und nun eigene Kinder haben. Von Erwachsenen, die nun die Alten sind. Und von alten Menschen, die wahrscheinlich längst tot sind. Die Bodendielen knarren bei jedem meiner Schritte. Eine Musikbox in der Ecke spielt Brown Sugar von den Rolling Stones und auf den Tischen stehen Flaschen mit Essig und Ketchup. Von der Decke hängen verbeulte Nummernschilder an Drähten herab. Ich zähle dreißig unterschiedliche Städte und Länder, bis ich die Theke erreiche. Atticus lässt sich auf einem der Barhocker nieder. Seine langen Beine finden zwischen dem Hocker und dem Tresen kaum Platz und er gibt es auf, sie übereinanderschlagen zu wollen. Stattdessen hockt er sich breitbeinig hin, wie ein Cowboy nach einem langen Ritt, was ungewohnt komisch bei ihm aussieht. Es riecht sauber hier drin. Kein Geruch nach schalem Bier oder ranzigem Fett. Die Theke glänzt mit den polierten Gläsern und unzähligen Alkoholflaschen um die Wette. Ich setze mich neben Atticus und betrachte uns beide in dem Spiegel, der hinter dem Tresen hängt. Mein einst ebenfalls rotblondes Haar hat sich mit den Jahren in ein nichtssagendes, glanzloses Nest verwandelt, das ich mit etwas zu viel Farben aufzupeppen versucht habe. Nun sehe ich aus wie eine Punkerin in der Midlife-Crisis. Die schwarzen Schatten unter meinen Augen werden mit jeder Meile tiefer, die wir uns von Landshut entfernen, und mein Make-up wirkt für diesen Ort viel zu grell. Ich sehe Atticus dabei zu, wie er seine Brille abnimmt und die Gläser mit einer der Servietten aus dem Spender putzt.
„Hier ist niemand“, stellt er fest und schiebt seine Brille wieder auf die Nase.
„Wenigstens ist es trocken“, sage ich. Atticus knüllt die Serviette zusammen und sieht sich nach einem Mülleimer um. Als er keinen findet, steckt er sie in seine Hosentasche.
„Wo ist die Toilette?“ Atticus steht auf.
„Dort hinten.“ Ich deute auf das Schild an der Wand, auf dem die Wörter Lads & Lasses stehen.
„Bestell mir einen Kaffee, falls jemand kommt. Schwarz.“
Gelangweilt betrachte ich mich weiter im Spiegel und sehe Atticus Gesichtszüge. Die sanften blauen Augen mit den langen Wimpern, der fein geschwungene Mund mit den schmalen Lippen, die hohe Stirn. Obwohl wir uns in vielen Dingen ähnlich sind, war und ist er mir in anderen Dingen weit voraus. Er konnte schon Mama und Papa sagen, während meine Sprachentwicklung noch im Bereich von Bababa und Grrrrrh stagnierte. Atticus übersprang die erste Klasse, ich kam erst mit sieben in die Schule. Dieses Schema zieht sich durch unser ganzes Leben. Atticus ist der ganze Stolz unserer Eltern und ich das Anhängsel, das hinter ihm aus Mutters Leib gekrochen kam – ganze sechs Stunden nach ihm. Er ist das Licht, ich bin der Schatten.
Die Musikbox rauscht. Brown Sugar wird von Sway abgelöst.
„Oh, hallo, ich habe gar nicht gehört, dass jemand reingekommen ist.“
Eine ältere Lady, die einer der Klischeeschubladen entsprungen sein könnte, derer sich Atticus manchmal für seine Geschichten bedient, taucht hinter dem Tresen auf und sieht mich aus traurigen Augen an. Ihr silbernes Haar ist zu einem Dutt hochgesteckt und auf ihrem Kopf ruht eine goldene Lesebrille. Sie sieht genauso aus, wie sich manche Menschen eine britische Großmutter vorstellen mochten.
„Kann ich einen schwarzen Kaffee, eine Limonade und Tee für die Thermoskanne bekommen, bitte?“, frage ich und stelle die Kanne auf den Tresen.
„Natürlich, Herzchen. Aber einen kleinen Moment wird es dauern. Ich muss die Kaffeemaschine erst einschalten.“
Sie schiebt ihre Lesebrille vom Kopf auf die Nase und beugt sich nach vorn, um einen Aufkleber, der an der Seite der Kaffeemaschine klebt, zu studieren. Eine Weile sehe ich ihr dabei zu, dann frage ich: „Kann ich Ihnen helfen?“
„Ach Schätzchen, das wäre freundlich. Dieser Automat ist neu und ich verstehe nicht, wo genau ich drücken soll. Mein Sohn ist normalerweise hier.“
Ich schlendere hinter den Tresen und lese, was auf dem Aufkleber steht. Es ist nicht schwer, den Vollautomaten in Gang zu bekommen. Während ich die richtigen Knöpfe drücke, fällt mein Blick auf das Foto eines älteren Mannes, das neben dem Automaten steht. An der oberen Ecke des Rahmens ist ein schwarzes Band befestigt. Die Maschine gibt ein Gurgeln von sich. Ich setze mich wieder hin und sehe zu, wie der Kaffee in die Tasse läuft. Wild Horses schallt aus der Musikbox und erinnert mich an den Grund für diese Fahrt. Meine Augen füllen sich erneut mit Tränen. Schnell setze ich meine Sonnenbrille auf. Auf keinen Fall möchte ich, dass mich die Alte weinen sieht.
Sie stellt die Tasse mit dem Kaffee vor mich. Irritiert betrachtet sie meine Sonnenbrille. Ich frage mich, wo Atticus so lange bleibt.
„Sind Sie allein unterwegs?“
Früher oder später bekommt man als Frau diese Frage immer gestellt. Selbst jetzt noch, mit meinen knapp vierzig Jahren. Als könnten sich Frauen nicht eigenständig fortbewegen. Als wären sie nur halbe Wesen, die ohne eine andere Hälfte, eine männliche, keinen Schritt machen konnten. Geschweige denn, ein Auto fahren oder ein Land durchqueren. „Mein Bruder begleitet mich. Wir hatten eine Autopanne.“
„Es gibt einen Abschleppdienst. Ich gebe Ihnen gleich die Nummer. Woher kommen Sie denn?“
„Aus Landshut. Also Bayern. Das ist in Deutschland“, plappere ich.
„Aha. Und wohin wollen Sie?“
„In den Norden.“
Ich habe keine Lust, mit ihr über meine komplizierten Familienverhältnisse zu sprechen, und sehe zu dem Bild neben der Kaffeemaschine. Zum Glück lässt sie das Thema auf sich beruhen. Stattdessen folgt sie meinem Blick und nimmt das Bild in die Hand.
„Das ist mein Mann, David. Er ist im Mai zu einem Spaziergang aufgebrochen und nicht wieder zurückgekommen. Man nimmt an, dass er ins Meer gestürzt und ertrunken ist.“
„Das tut mir leid“, sage ich.
Sie küsst das Bild und stellt es zurück. Sie holt einen vergilbten Notizblock hervor und kritzelt eine Telefonnummer darauf.
„Man hat ihren Mann nicht gefunden?“, erklingt die Stimme meines Bruders hinter mir. „Hallo, ich bin Atticus“, sagt er und reicht der Frau die Hand.
„Sie beide sehen sich aber ähnlich. Sind Sie Zwillinge?“, fragt sie und schiebt Atticus den Notizzettel zu, als wäre ich mit einem Mal Luft.
„Zweieiige, offensichtlich“, sage ich und nehme meine Sonnenbrille wieder ab. Sie hat nur Augen für Atticus.
„Mein Name ist Marple. Marple Bainbridge.“

„Und Marple ist Ihr richtiger Vorname?“, fragt Atticus.

„Nach meiner Großmutter“, antwortet Marple Bainbridge und errötet wie ein Schulmädchen.

„Wie herrlich.“ Atticus setzt sich neben mich, zieht die Tasse mit dem Kaffee zu sich heran und strahlt Miss Marple an.

„So herrlich wie Sie beide. Wie ist das, ein Zwilling zu sein?“, fragt sie und ich habe Mühe, nicht meine Augen zu verdrehen. Stattdessen sage ich: „Stellen Sie sich vor, Sie stecken in einem kleinen Ballon fest und neben Ihnen ist ein weiterer kleiner Ballon, in dem jemand anderes steckt. Diese beiden Ballons knallen neun Monate lang aneinander. Das ist manchmal tröstend und meistens nervig. Und so bleibt es für den Rest Ihres Lebens.“

Atticus schüttelt den Kopf und sagt: „Das Leben mit einem Zwilling ist ein Tanz zwischen Symbiose und Selbstentfaltung.“

Miss Marple legt ihre Hände ineinander, als würde sie beten, und drückt sie an ihre Wange. Dabei sieht sie uns mit diesem dämlichen, glückseligen Lächeln an, das die Leute bekommen, wenn sie Atticus und mich sehen. Weil wir das Pech haben, uns für zweieiige Zwillinge so verdammt ähnlich zu sehen.

„Ist es wirklich wahr, dass Sie die Gedanken des anderen lesen können? Oder den Schmerz des anderen spüren? Haben Sie sich schon mal mit dem Hammer auf den Finger geschlagen, Atticus, und ihre Schwester hat es gespürt?“

Ich gebe ein genervtes Seufzen von mir. Aber Atticus geht auf diese lächerliche Frage ein.

„Das wäre wirklich schön, Marple. Leider ist das nicht so. Wir haben in vielen Dingen nicht einmal denselben Geschmack. Sehen Sie, ich trinke schwarzen Kaffee. Charlie mag lieber Tee.“

„Das ist herzallerliebst.“

„Marple, ich würde wirklich gerne wissen, warum Sie denken, dass Ihr Mann tot ist.“

„Atticus“, flüstere ich und knuffe ihn mit dem Ellbogen. Laut sage ich: „Kann ich eine Limonade haben?“

„Ist schon gut, Liebes. Er darf ruhig fragen. Wie gesagt, mein David ist zu einem seiner Spaziergänge aufgebrochen und nicht wieder nach Hause gekommen.“

Aus dem Kühlschrank holt sie eine Zitronenlimonade und schenkt mir ein. „Mein Sohn hat sich noch am selben Abend aufgemacht, um nach ihm zu suchen. Er hat nur Davids Rucksack gefunden. Er lag an einer Klippe am Meer. Normalerweise ist er nie weiter als bis zu seiner Bank beim Devils Point gegangen. Er mochte die Sonnenuntergänge so gern. Ich kann mir nicht erklären, warum er bis zum Meer gelaufen ist. Vor allem bei der Hitze an diesem Tag. Wir alle gehen davon aus, dass er abgerutscht ist. Seine Leiche konnte nicht gefunden werden. Die Strömung ist dort recht stark.“

„Das tut mir wirklich leid zu hören, Marple.“

Ich trinke einen Schluck. Die Limonade ist süß und bitter. Beides gleichzeitig. Wie meine Liebe zu Atticus. Schlecht gelaunt starre ich das Bild des für tot erklärten David Bainbridge an.

„Wir sollten gehen“, sage ich.

„Gleich. Marple, darf ich mir das notieren? Ich bin Schriftsteller, wissen Sie. Und ich suche immer nach interessanten Geschichten, die ich später in meinen Romanen verwenden kann.“

Natürlich erlaubt sie es ihm und die Kanne mit Tee bekommen wir sogar gratis. Ich wundere mich mal wieder darüber, warum mein Bruder mit einem solchen Charisma gesegnet ist und ich die Ausstrahlung eines alten Maulwurfs besitze. Wir bedanken uns und verlassen das Squirrel Inn.

„Warum musst du nur immer solche Fragen stellen und erzählen, dass du Schriftsteller bist? Dann wollen sie Autogramme und Bilder, auf denen man lächeln soll.“

Atticus sieht mich verwundert an. „Aber das ist doch etwas Schönes. Die Menschen freuen sich, wenn sie mich treffen. Und ich mache Leuten gern eine Freude. Obendrein höre ich die faszinierendsten Dinge. Ich verstehe nicht, warum du nie von deinen Bildern erzählst. Du bist eine außergewöhnliche Malerin. Sie hätte sich bestimmt gefreut.“

„Genau. Und mein Autogrammbild hätte sie neben das ihres toten Mannes gestellt. Nein, Danke.“

Ich hasse es, wenn Leute mich erkennen. Mir wäre es am liebsten, ich könnte meine Bilder malen und sie per Post an Galerien verschicken, ohne mich jemals einem Menschen zeigen zu müssen. Das lässt die Kunstszene jedoch nicht zu. Stattdessen muss ich auf Partys erscheinen, reichen Leuten die Hände schütteln und stundenlangen Small Talk über mich ergehen lassen, damit sie am Ende ihre Kreditkarten zücken. Es widert mich an. Im Gegensatz zu meinem Bruder, der auf solchen Events richtig aufblüht.

„Und die nächste Person, die fragt, ob wir unsere Gedanken lesen können, soll von einem Blitzschlag getroffen werden. Wenigstens hat sie nicht gefragt, wer von uns beiden der böse Zwilling ist.“

Atticus sieht mich grinsend an. „Als ob das nötig gewesen wäre.“

 

*

 

„Heute hat er keine Zeit“, sagt Atticus und steckt sein Handy ein. „Er kann den Wagen erst morgen holen.“

„Und was sollen wir jetzt bitte schön machen?“

„Wir gehen zurück ins Squirrel. Marple hat sicher ein Zimmer für uns.“

„Du scheinst einen richtigen Narren an Miss Marple gefunden zu haben.“

„Nenn sie nicht so. Das ist unhöflich.“

„Ach, das ist unhöflich? Aber die Fragen, mit denen du sie gelöchert hast, nicht.“

„Ich verstehe nicht, warum du so schlecht aufgelegt bist. Bevor wir losgefahren sind, hast du dir gewünscht, es würde etwas geschehen, damit wir nicht so schnell bei deinen Schwiegereltern ankommen.“

„Ich weiß. Lass uns reingehen.“

„Na also“, murmelt Atticus, nimmt meine Hand und führt mich zurück in den Pub.

 

Hinter dem Tresen steht nun ein junger Mann. Er ist fast so groß wie Atticus, nur wesentlich kräftiger gebaut. Seine Muskeln wölben sich unter dem weißen Shirt, während er mit einem Fass hantiert.

„Hallo“, sage ich.

„Hi. Was darf’s für euch sein?“ Er streicht seine schwarzen Haare zurück.

„Gibt es etwas zu essen?“

„Eintopf.“

Wir nehmen beide eine Portion und schlingen sie hinunter. Dazu genehmigen wir uns ein Bier. „Können wir hier schlafen?“, frage ich.

„Wir haben ein freies Zimmer. Achtzig Pfund pro Nacht mit Frühstück.“

„Dann nehmen wir das“, sage ich und suche nach meiner Geldbörse.

Atticus und ich folgen ihm in den ersten Stock in eines der Zimmer. Es ist klein, aber gemütlich eingerichtet.

„Ich kenne Sie“, sagt er. Seine braunen Augen mustern mich aufmerksam.

„Sie ist eine berühmte Malerin“, springt mein Bruder gleich ein und ich bemühe mich um ein nettes Lächeln.

„Charlotte Harper. Freut mich.“ Ich reiche ihm die Hand.

„Ich bin Amal Sharma. Eines ihrer Bilder hängt bei mir zu Hause. Ich habe es vor einigen Jahren in London gekauft. Oft stehe ich davor und versinke in der Welt, die Sie erschaffen haben.“

„Das freut mich, Amal. Vielen Dank.“

„Wenn Sie etwas brauchen, geben Sie mir Bescheid. Oder läuten Sie bei den Bainbridges. Die Eingangstür zu deren Wohnung ist auf der Rückseite des Pubs.“

„Gut, danke schön“, sage ich und bin erleichtert, als er endlich geht. Ich mag keine Aufmerksamkeit.

„Ein Fan am Ende der Welt, wer hätte das gedacht?“ Atticus grinst mich an.

„Toll“, murmle ich und mustere das Bett. Es ist zu kurz für unsere langen Beine, aber das sind wir gewöhnt. Wenigstens hat es keinen Bettkasten, sodass wir uns ausstrecken können. Ich gehe ins Badezimmer und lege mich anschließend sofort hin.

Mein Bruder lehnt an der Balkontür und mustert mich.

„Willst du über den Unfall reden?“

Noch einmal höre ich den Aufprall, sehe, wie der Vogel wie eine Blutbombe auf der Scheibe explodiert. Meine Hand legt sich sachte auf meinen Unterleib.

„Nein.“

„Okay.“ Er kommt ins Zimmer und schaltet den Teekocher an.

„Ich glaube nicht, dass das Marples Sohn war“, sage ich.

„Wohl nicht. Aber bestimmt lernen wir Bainbridge Junior noch kennen.“

„Ich kann es kaum erwarten.“

„Sarkasmus?“

„Aber nein“, antworte ich müde.

„Ach, Charlie …“, seufzt er und tätschelt meinen Arm. „Wo ist meine Beißschiene?“

Müde deute ich auf den Plastikbehälter, den ich bereits auf den Nachttisch gestellt habe. Er nimmt die Schiene heraus und nimmt sie mit ins Bad. Ich höre, wie er sich die Zähne putzt.

Meine Augen fallen zu. Atticus läuft irgendwo gegen und jammert. „Was machst du denn?“, nuschle ich, aber noch bevor er antworten kann, schlafe ich ein.

 

*

 

Vier Wochen zuvor

 

Ich krieche aus dem Bett und starre auf die zerwühlten Laken. Obwohl ich es besser weiß, gehe ich um das Bett herum und fasse mit der Hand unter die Decke, wo ich noch immer Julians Körperwärme spüren kann. Ich befehle den aufsteigenden Tränen, sich zur Hölle zu scheren, ziehe mir einen Pullover über und mache mich auf den Weg in die Küche. Julian sitzt auf einem der hässlichen Plastikhocker, die wir in einem Anfall geistiger Umnachtung auf einem Trödelmarkt in der Portobello Road gekauft haben. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor seit damals.

„Du hast geschnarcht“, begrüßt er mich, ohne von seinem iPad aufzusehen, auf dem er zweifelsohne die Kritiken meiner Ausstellung in einer der angesagtesten Galerien Londons liest.

„Ist noch Kaffee da?“, frage ich und er nickt. Ich versuche, anhand seines Gesichtsausdrucks zu deuten, ob die Stimmen der Kritiker eher freundlich oder vernichtend ausgefallen sind. Sein Gesicht gleicht jedoch einer Maske, erschaffen von einem aufstrebenden Künstler, der nicht allzu viel davon hielt, Emotionen in seine Werke einfließen zu lassen.

„Unterrichtest du heute?“, frage ich weiter. Julian antwortet mit einem Nicken. Seufzend gieße ich mir von dem Kaffee ein und gehe nach nebenan in mein Atelier. Julian ist Professor und hat seinen sicheren Arbeitsplatz an der Akademie für Kunst vor Jahren aufgegeben, um risikobereite Maler zu unterrichten. Seine über Monate hinweg ausgebuchten Workshops mit dem Titel „Kunst und Revolte“ sicherten uns neben meinen Gemälden ein mehr als gutes Einkommen. Ich setze mich auf das Sofa mit den abgewetzten grünen Bezügen und schließe die Augen. Ich liebe den Geruch meines Ateliers. Besonders an den Tagen, an denen die Sonne das Zimmer langsam erwärmt und die Gerüche nach Terpentin, Leinöl und Lack immer mehr intensiviert. Ich liebe es, wenn ich die Augen öffne und kleine Staubpartikel in den feinen Sonnenstrahlen tanzen sehe, die durch die großen Fenster fallen und mir das Gefühl geben, in einer magischen Welt zu leben, in der es nur mich und die nackte Leinwand gibt, die bereit ist, die Farben meiner Seele in sich aufzunehmen und zu einem Kunstwerk verschmelzen zu lassen. Meiner Seele, die anschließend der Öffentlichkeit preisgegeben, aus dem sanften Licht der Sonnenstrahlen in das kalte Licht der Scheinwerfer gezwungen wird, wo sie der innigen Liebe der einen und gleichsam dem Hohn der anderen Liebhaber der Kunst ausgesetzt ist.

Ein Schatten drängt sich in das Blickfeld hinter meinen geschlossenen Lidern und gleich darauf spüre ich Julians Lippen auf den meinen.

„Die Verheißung einer dunklen Sommernacht“, flüstert er mir ins Ohr.

„Wer hat das gesagt?“

„Jemand, dessen Meinung wichtig genug für dich ist. Du wirst ein volles Haus haben.“

Ich öffne die Augen und betrachte Julian. Meine Liebe für ihn verbrennt mich innerlich. Ich hebe meine Hand, um ihm über seine unrasierten Wangen zu streichen, und lasse sie wieder sinken. Wie eine Ertrinkende klammere ich mich an meine Kaffeetasse und versinke in seinen grünen Augen. Ein paar seiner mittlerweile mit grauen Strähnen durchzogenen, braunen Haare fallen über seine Augenbrauen und glänzen in der Morgensonne. Ich will ihm sagen, dass ich ihn brauche. Dass ich ihn liebe. Wie immer schaffe ich es nicht, meine Gefühle in Worte zu fassen. Stattdessen sage ich: „Der Kaffee war schon kalt.“ Er nimmt mir die Tasse aus der Hand.

„Ich mache frischen.“

Während er das Atelier verlässt, starrte ich auf seinen Hintern, der in den engen Jeans wie eine Aufforderung an meine animalischsten Triebe wirkt. Sie auffordert, an die Oberfläche zu kommen und zu tun, wofür die Natur uns geschaffen hat. Sich gedankenlos zu paaren und zu vermehren. Wir haben uns gepaart. Oft, heftig und schamlos. Trotzdem hat das Vermehren nicht funktioniert. Nach unzähligen Versuchen, zwei Fehlgeburten und anschließenden monatelangen Depressionen war es mir zu viel gewesen und irgendwann haben wir aufgehört, miteinander zu schlafen. Zu groß ist die Angst vor den Folgen. Und anstatt in die tröstenden Arme meines Mannes zu fliehen, habe ich mich in die vertrauteren Arme meines Bruders Atticus geflüchtet. Atticus, der mich besser versteht als jeder andere Mensch auf diesem Planeten. Der seit dem Tag unserer Geburt immer bei mir ist, selbst wenn er sich nicht in meiner unmittelbaren Nähe aufhält. Atticus lebt in meinen Gedanken und beeinflusst jede meiner Entscheidungen. Uns verbindet ein unsichtbares Energiefeld, das kein anderer Mensch spüren oder verstehen kann. Damit habe ich Julian in einen Mann verwandelt, der genau wie ich an einer Ehe festhält, die für uns beide schon längst verloren ist.

Als Julian nicht wieder zurückkommt, stehe ich auf, nehme meinen Lieblingspinsel und tauche ihn wahllos in den nächsten Farbeimer. Mit einer ausladenden Bewegung meines Armes nach oben und mehreren ruckartigen Bewegungen von links nach rechts, lasse ich das Azurblau auf die nackte Leinwand gleiten. Die Zeit verliert sich in den Strichen meines Pinsels und dem Rausch der Neuerschaffung.

 

*

 

August 2022

Shirling, England

 

Am nächsten Morgen steht erneut Miss Marple hinter dem Tresen und ich frage mich, wo ihr Sohn ist. Bis auf einen Mann, der etwa in Miss Marples Alter zu sein scheint, sind wir die einzigen Gäste und treten zurückhaltend in die Gaststube.

„Ah, ich dachte mir schon, dass Sie beide es sind. Hat es mit dem Wagen nicht geklappt?“, fragt sie.

„Der Abschleppdienst kann erst heute kommen. Gegen Mittag“, erklärt Atticus.

Der ältere Herr dreht sich in unsere Richtung. Er will sehen, wer die Gäste sind, die Miss Marple so faszinieren. Er betrachtet uns eingehend, aber freundlich von oben bis unten, streicht über seinen weißen Vollbart und sagt: „Sie können bis dahin den alten Friedhof besichtigen.“

Dafür kassiert er einen strafenden Blick von Miss Marple, aber Atticus wird sofort hellhörig. „Alter Friedhof?“

Mein Bruder liebt Friedhöfe, düstere Gemäuer und Ruinen. Alles, was mit Geschichte behaftet ist. Je älter und schauriger, umso besser. Er kann Stunden an solchen Orten verbringen und manchmal schreibt er dort sogar an seinen Horrorromanen. Das Thema Friedhof scheint Miss Marple unangenehm zu sein. Sie versucht, den Mann unauffällig anzurempeln. Der beachtet sie nicht.

„Den Hügel hoch, über die Weiden und dann dem schmalen Pfad folgen. Der Friedhof liegt hinter einer langen Mauer. Um den zu verfehlen, muss man schon ziemlich dumm sein. Oder blind. Sie sehen aus, als wären Sie keines von beidem.“

„Du bist jetzt besser still, Malcolm Bateman“, schimpft Miss Marple und nimmt ihm seine noch fast volle Tasse Kaffee weg. Scheinbar hat sie heute keine Probleme mit der Bedienung der Kaffeemaschine.

„Hey, ich trinke das noch.“ Bateman versucht, nach der Tasse zu greifen.
Marple schüttet den Kaffee ins Spülbecken. „Geh und kümmere dich um deine Schafe.“

Bateman kratzt sich den Bart, rutscht Unverständliches brummelnd vom Hocker und setzt seine Mütze auf. Dann nickt er uns zu und geht. Miss Marple sieht ihm missmutig hinterher, während sie seine Tasse ausspült.

„Alter Trottel. Der Friedhof ist nur ein Friedhof. Das ist kein Ort für Touristen, sondern ein Ort für die Trauernden.“
Atticus setzt sich auf den Hocker, von dem Malcolm Bateman aufgestanden ist, und starrt die alte Frau mit kindlichen Augen an. „Marple, bitte, erzählen Sie von dem Friedhof. Sie wissen, ich bin Schriftsteller, und das ist genau die Art von Ort, die mich interessiert.“

Miss Marple schlägt mit dem Geschirrtuch auf den Tresen. Meiner Meinung nach will sie lieber nach Atticus schlagen, traut sich aber nicht. Sie mustert ihn scharf. Er wirft seine Stirn in Dackelfalten. Sie seufzt und ich sehe ihre angespannten Schultern nach unten sinken. Natürlich gibt sie seiner Bitte nach.

„Wenn ihr unbedingt dort hingehen müsst, habt wenigstens etwas Respekt.“

„Keine Sorge, Marple.“ Atticus legt seine Hand auf die ihre, was sie wieder wie ein junges Mädchen erröten lässt. „Wir werden niemandem zur Last fallen.“

 

*

 

Auf dem Parkplatz vor dem Friedhof wartet ein einzelner Wagen. Dahinter beginnt eine Steinmauer, die sich in der Weite zu verlieren scheint. Die Sonne brennt heute vom Himmel herab, als gäbe es kein Morgen.

„Wow, der Friedhof ist riesig!“ Atticus springt, von der Hitze völlig unbeeindruckt, von einem Bein aufs andere. Ich betrachte die alte Steinmauer und die erstickende Vegetation. Passend zur Stimmung liegt der knochige Schädel eines toten Tieres vor dem schmiedeeisernen Eingangstor. Mein Bruder nimmt sein Smartphone und schießt ein Bild davon. Gemeinsam betreten wir den Friedhof. Einige Grabsteine sind schief oder fehlen. Die Inschriften sind kaum zu erkennen. Die Gräber liegen verwahrlost unter dicken Efeuranken und altem Laub, das von den vielen Bäumen gefallen ist, die wie Mahnmale verstreut zwischen den Gräbern stehen und mit ihren Ästen hoch in den Himmel greifen. Auf den neueren Gräbern liegen frische Blumen und die Inschriften auf den Grabsteinen sind gut zu lesen.

„Also los“, sage ich halbherzig und trotte hinter Atticus her durch das Tor. Bereits nach wenigen Minuten bricht mir der Schweiß aus und ich wische mir mit dem Ärmel meiner Bluse über das verschwitzte Gesicht. Langsam schreite ich hinter meinem Bruder Reihe für Reihe ab. Erst im letzten Moment bemerken wir eine Frau, die vor uns auf dem Weg kniet und zu beten scheint.

„Das Grab ist leer“, teilt sie uns ungefragt mit.

Ein Krampf zuckt durch meinen Unterleib. Ich lege eine Hand auf meinen Bauch und presse meine Lippen aufeinander. Ich schweige, da ich nicht weiß, was ich darauf erwidern soll. Ich sehe mich nach Atticus um, der wie gebannt auf den Grabstein starrt. Shirley Graham steht darauf. 1999 - 2002.

Die Frau, die vor uns kniet, hat graues Haar, das ihr bis an die Hüften reicht. Ihre Finger umklammern ein Medaillon, das sie um den Hals trägt. Vermutlich befindet sich ein Bild von Shirley darin.

„Man hat meine Shirley nicht gefunden. Können Sie sich vorstellen, was das für uns bedeutet?“

Ich denke an die Tage nach meiner ersten Fehlgeburt. An die Hilflosigkeit, das Gefühl einer nie enden wollenden Leere in mir. Ich nicke, obwohl die Frau das nicht sehen kann. Atticus nagt an seinem Knöchel.

„Die Polizei hat schon längst aufgegeben. Sie haben es aufgegeben, mein Kind zu suchen.“ Endlich sieht sie uns an. Ihre Augen schwimmen in nicht vergossenen Tränen. Die Frau erhebt sich langsam. Sie sieht uns mit einem verlorenen Gesichtsausdruck an. Als wir noch immer nichts erwidern, nickt sie, als hätten wir etwas gesagt. Dann dreht sie sich um und geht davon. Wie erstarrt bleiben wir stehen und sehen ihr hinterher. Das Grab ist leer. In meinem Inneren herrscht Chaos. So schnell wie möglich möchte ich von hier fort.
„Was wohl geschehen ist?“, fragt Atticus.

„Ich will es gar nicht wissen“, sage ich, und versuche meiner aufgewühlten Emotionen Herr zu werden.

„Es könnte natürlich ein Unfall gewesen sein“, redet Atticus weiter, als hätte ich nichts gesagt, „aber es kann auch Mord gewesen sein.“

Eine eiskalte Hand greift sich mein Rückgrat. Atticus sieht sich um. „Mist, ich hätte die Frau danach fragen sollen. Jetzt ist sie sicher schon fort.“ Er wischt sich über den Nacken, auf dem sich bereits ein Sonnenbrand abzeichnet. Kopfschüttelnd sehe ich meinen Bruder an. Er scheint den Verstand verloren zu haben.

„Das Grab ist leer. Wahnsinn. Welch eine Wucht in diesem einen Satz steckt.“

„Was läuft nur falsch bei dir?“, frage ich und sehe zu, wie Atticus sein Notizheft herauszieht und etwas hineinkritzelt. Ich gehe ein paar Schritte voraus in Richtung Ausgang. „Schau mal.“ Ich zeige auf einen Grabstein eine Reihe weiter. David Bainbridge 1951-2022, steht darauf.

„Noch ein leeres Grab“, sagt Atticus. „Sollen wir nachsehen, ob wir die Frau irgendwo finden?“ Er rennt los, ohne auf eine Antwort zu warten. Auf schwachen Beinen stolpere ich hinter ihm her. Als wir beim Eingangstor ankommen, wird mir schwarz vor Augen. Ich lasse mich an der Mauer des Friedhofs ins Gras gleiten und schirme meine Augen mit der Hand gegen die Sonne ab. Atticus bleibt stehen und guckt auf den leeren Parkplatz. „Verdammt, sie ist weg.“ Er setzt sich neben mich und schmollt. Seine Stirn und die Nase sind knallrot von der Sonne und ich fürchte, mein Gesicht sieht ebenso aus. Er lehnt seinen Kopf gegen die Mauer. „Wir könnten noch einen Tag hierbleiben. Möglicherweise erfahren wir im Squirrel, wer sie ist.“

„Ich will hier weg.“

„Aber, Charlie …“

„Nein!“, rufe ich.

Atticus’ Handy klingelt. Er spricht kurz und steckt es wieder ein.

„Der Abschleppheini ist beim Audi. Vielleicht kann uns jemand aus dem Pub hinbringen.“

„Gott sei Dank. Dann los.“

Frisch motiviert laufe ich den Pfad zurück, während Atticus mir, noch immer schmollend, hinterherstapft.

 

Ich sehe euch!

Prolog

Mit zitternden Händen zog er ein Taschentuch aus seiner Jacke und wischte sich fluchend den Schweiß von der Stirn. Dabei starrte er auf den orangefarbenen VW Käfer, der auf dem Waldparkplatz stand. Er stellte seinen BMW ein Stück dahinter ab. Die ganze Zeit zerbrach er sich wegen all der nicht zu eliminierenden Unsicherheitsfaktoren den Kopf. Einer davon waren diese verdammten Naturliebhaber. Er schloss für einen Moment die Augen, bis der Junge auf dem Rücksitz ein leises Stöhnen von sich gab. Seufzend stieg er aus. Er suchte die Umgebung ab. Niemand war zu sehen. Er zog das gefesselte Kind aus dem Wagen und warf es über seinen Rücken. Geduckt tauchte er in das Unterholz ein.

Es war ein düsterer Montagabend. Der Schneeregen, der seit dem Mittag fiel, hinterließ ein klammes Gefühl auf seinen Wangen. Schwer atmend kämpfte er sich durch Brombeergestrüpp. Ein Ast schlug in sein Gesicht und riss ihm die dünne Haut unter dem rechten Auge auf. Fluchend zuckte er zurück. Es raschelte in seiner Nähe und eine Frau trat aus dem Unterholz. Langes, graues Haar wallte unter einer gelben Fleece-Mütze hervor. In der Hand hielt sie einen orangefarbenen Jutesack.

Eine Pilzsucherin, fuhr es ihm durch den Kopf. Er wartete ab, hoffte, sie würde sich nicht zu ihm umdrehen.

Sie drehte sich um.

„Oh“, sagte sie.

Sie bemerkte den bewusstlosen Jungen über seiner Schulter.

„Was tun Sie mit dem Kind?“

Er warf den Jungen auf den Boden, packte die Frau und zog ein Messer aus dem Hosenbund. Sie schrie auf. Er schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht.

„Warum sind Sie hier? Es gibt keine Pilze mehr um diese Zeit.“

„Pilze?“, fragte sie und starrte auf das Messer.

„Das haben Sie sich selbst zuzuschreiben.“

Fluchend stieß er ihr die Klinge ins Herz. Er hielt sie fest, bis es vorbei war. Dann hängte er sich den Jutesack über die Schulter und zog die Frau zurück ins Unterholz. Er betrachtete ihre Kleidung.

Eine orangefarbene Outdoor-Jacke, graue Jogginghosen, dicke Wollsocken und Wanderschuhe, die nur lose zugebunden waren. Im Jutesack befand sich eine Schaufel, eine Stirnlampe und eine Rolle Toilettenpapier. Diese Frau war keine Pilzsucherin, sie wollte hier schlafen. Der VW Käfer passte ebenfalls zu ihrem Typ. Er fragte sich, ob sie allein unterwegs war. Wenn jemand sie in ein paar Minuten vermisste, würde es im Wald in kürzester Zeit vor Polizisten wimmeln.

Er rannte zurück zu dem Jungen. Dann steckte er das Messer in den Hosenbund, zog den Kleinen auf seinen Rücken und lief in die Richtung, aus der die Frau gekommen war. Keine zwei Minuten später fand er ein Zweimannzelt. Leises Schnarchen drang durch die dünnen Wände. Er legte den Jungen erneut ab und zog das Messer heraus. Langsam öffnete er den Reißverschluss. Auf Händen und Knien kroch er hinein und schob den Schlafsack der Frau zur Seite, aus dem noch immer ihre Körperwärme drang. Ein grauhaariger Mann lag vor ihm. Er schnitt ihm die Kehle durch. Er wartete, bis das Röcheln des Sterbenden verklungen war. Dann kroch er rückwärts aus dem Zelt und tastete die nasse Kleidung ab. Das Blut war überall. Das konnte er nicht ändern. Er setzte seinen Weg fort und hoffte, es gab keine weiteren Zwischenfälle.

Zehn Minuten später kam er endlich an. Er holte einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und schloss das Tor auf. Als er das Grundstück mit der morschen Hütte vor einigen Jahren gekauft hatte, hatte er das für sich behalten. Es war ein geheimer Ort, an den er sich manchmal zurückzog. Niemand würde hier nach dem Kind suchen.

Er trug den Jungen zu dem alten Brunnenschacht, der unter einem schweren Brett versteckt war und warf ihn daneben. Ächzend streckte er die Arme und drückte die Wirbelsäule durch. Mittlerweile stand der Mond am Himmel und tauchte alles in bleiches Licht.

Vor dem Brunnen ließ er sich auf die Knie nieder und biss die Zähne zusammen, bis er den schweren Holzdeckel zur Seite geschoben hatte. Der Schacht führte gute drei Meter unter die Erde. Das würde reichen. Der Kleine öffnete die Augen und starrte ihn an. Das Kind versuchte etwas zu sagen, doch durch den Knebel im Mund war nur ein undeutliches Gebrabbel zu hören. Er schob den Jungen über den Rand und ließ ihn in den Brunnen fallen.

Eine Weile lauschte er dem Wind in den kahlen Ästen. Zufrieden massierte er seinen Nacken, bis der Mond hinter den dicht dahintreibenden Wolken verschwand und die Nacht den Wald verschlang. Dann holte er die beiden anderen Leichen und das Zelt. Er durchsuchte sämtliche Taschen, nahm Geldbeutel, Ausweispapiere und den Autoschlüssel an sich. Danach warf er das Paar und deren Zelt nacheinander in den Schacht. Vollkommen erschöpft fischte er mit blutverklebten Fingern eine Packung Zigarillos aus der Innentasche seines Parkas und zündete einen davon mit einem Streichholz an. Er setzte sich an den Rand und rauchte. Nach dem letzten Zug steckte er den Stummel in seine Jackentasche. Er würde die Kleidung verbrennen, sobald er zuhause war. Ächzend schob er die Abdeckung wieder auf den Schacht und kehrte zum Parkplatz zurück. Er betrachtete den Käfer des Ehepaares. In einem Kilometer Entfernung gab es einen tiefen See. Er stieg in den VW und schaltete das Radio ein, wechselte auf einen Klassiksender und summte Mozarts Kleine Nachtmusik mit, bis er am See angekommen war. Er fuhr den Wagen nah an die Klippe, durchsuchte den Innenraum und als er nichts darin gefunden hatte, außer einem Verbandskasten und einer leeren Thermoskanne, schob er den VW über die Felsen. Während er zusah, wie das Auto langsam unterging, rauchte er einen weiteren Zigarillo. Dann lief er über die Felder zurück zu seinem BMW.

Er startete den Motor und beeilte sich nach Hause zu kommen. Heute war Pfannkuchentag.

Kapitel 1

April 2018

„Seid ihr bereit?“, fragte Melvin und steckte den Autoschlüssel in das Zündschloss des Volvos.

„Bereit“, rief Emil und leckte über seine Zahnspange.

„Bereit“, strahlte Sarah und schlug die Beifahrertür zu.

„Das habt ihr mich vorher nicht gefragt, dann kann ich mir jetzt auch eine Antwort sparen“, maulte Leni und zog ihr Smartphone aus der Hosentasche.

Als Melvin den Motor startete, umklammerte Sarah die blaue Tupperdose auf ihrem Schoß. Darin bewahrte sie die Zimtschnecken auf, die sie als Proviant für die knapp sechshundert Kilometer lange Strecke gebacken hatte.

„Ich finde diese Aktion voll dämlich“, gab Leni weiter ihre Meinung kund.

Sarah warf einen letzten Blick auf das Haus, über dessen Schwelle Melvin sie getragen hatte, in dem ihre beiden Kinder aufgewachsen waren und mit dem sie so viele schöne Erinnerungen verbanden. An den Wänden blätterte die Farbe ab, auf dem Dach fehlten ein paar Lamellen und der Garten sah aus, als hätte darauf eine Schlacht stattgefunden. Und obwohl sie sich auf das neue Haus freute, würde sie das alles vermissen.

„Warum findest du das dämlich, Schatz“, fragte sie und drehte sich zu ihren Kindern um.
Ohne den Blick vom Display des Smartphones zu heben, sagte Leni: „Weil es krank ist, ein Haus zu kaufen, über das man gar nichts weiß. Das man nicht einmal vorher besichtigt hat.“ Sie ließ eine Kaugummiblase platzen und tippte auf dem Handy herum.

„Wir mussten uns schnell entscheiden“, mischte sich Melvin ein. „Die Immobilie war sehr günstig, weil die Vorbesitzer schnell verkaufen mussten und es schon etwas älter ist. Dadurch gab es viele Interessenten. Hätten wir gezögert, wäre das Haus vom Markt gewesen“, versuchte er seinen Nachwuchs von der Richtigkeit zu überzeugen, einen Neubeginn in einer fremden Stadt zu wagen.

Leni ließ das Smartphone sinken und sagte mit einem Seitenblick auf ihren jüngeren Bruder: „Schreckliche Dinge könnten darin geschehen sein.“

Emil sah von dem Buch auf, in dem er las. „Was für Dinge?“

„Na ja“, meinte Leni und fuhr sich durch ihre bunt gefärbten, kurzen Haare, „ein irrer Serienmörder hat vielleicht darin gewohnt, der seine Leichen unter dem Haus vergraben hat. Und die spuken jetzt darin herum, weil man sie nie gefunden hat.“

„Hör auf damit“, schimpfte Sarah. „Er ist noch zu klein für so etwas.“

Emil strahlte. Mit einer Handgeste, die er von seinem Vater imitierte, winkte er ab. „Ach, Mama, erstens bin ich schon zehn und zweitens habe ich bereits Schlimmeres gelesen.“

Sarah warf einen skeptischen Blick auf das Buch. „Warum, was liest du denn da?“

„Das ist Moby Dick. Aber ich habe erst kürzlich einen Roman von Stephen King gelesen. Der war gruselig. Hat man den Serienmörder geschnappt?“

„Es hat kein Serienmörder in unserem Haus gelebt“, sagte Sarah und hoffte, damit die Diskussion zu beenden.
Ihre Tochter ließ eine weitere Kaugummiblase platzen und grinste. Emil legte das Buch beiseite. „Ihr habt gesagt, ihr wisst nicht, wer vorher da gelebt hat. Also könnte Leni recht haben mit dem Serienmörder und die Geister seiner Opfer spuken tatsächlich dort herum.“

„Und sie kommen dich nachts holen“, flüsterte Leni und packte ihren Bruder am Arm. Emil kreischte lachend.

„Hört jetzt auf mit diesem Unsinn. Es ist ein prima Haus. Im Preis waren sogar ein paar Möbel enthalten. So sparen wir eine Menge Geld, das wir für andere Dinge ausgeben können. Es wird euch gefallen“, sagte Melvin.

„Natürlich. Warum sollte es uns auch nicht gefallen, am Ende der Welt zu leben, wo wir die Neuen sind und mitten im Schuljahr ankommen?“, säuselte Leni.

„Landshut ist nicht das Ende der Welt, Kleines“, warf Sarah ein und streckte die Hand nach ihrer Tochter aus.
Leni wich vor ihr zurück. „Ich bin nicht mehr dein Kleines. Ich bin fast fünfzehn und ich finde es unfair, dass ihr diesen Umzug ohne uns entschieden habt. Landshut ist voll die Spießerstadt. Und die komische Sprache von den Leuten da versteht auch keiner.“

„Die Leute in Niederbayern können auch Hochdeutsch sprechen. Ich denke nicht, dass in der Schule oder auf der Arbeit Dialekt gesprochen wird. Wir werden dort ein schöneres Leben haben, Schatz. Papa hat einen höheren Posten als in seiner alten Arbeit. Er verdient viel mehr und hat es nicht weit. Wir können alle von vorne anfangen. Neue Leute kennenlernen, neue Freunde finden.“

„Mein Leben ist schön, ich brauche kein schöneres. Außerdem habe ich hier genügend Freunde und Emil auch. Nur wegen Papas blödem Job müssen wir anderen leiden.“

„Leni, jetzt ist Schluss“, wies Melvin seine Tochter zurecht.

„Ich hasse euch“, schrie Leni und setzte ihre Kopfhörer auf. Emil strich seiner Mutter über die Wange und schenkte ihr ein Lächeln. „Das ist die Pubertät, Mama. Und sie ist traurig wegen Leon.“

„Wer ist Leon?“, fragte Melvin. Emil schlug sich mit der Hand auf den Mund. „Ich darf das nicht erzählen. Sie wird stinksauer, wenn sie erfährt, dass es mir herausgerutscht ist.“

„Sie hört dich nicht mit den Kopfhörern. Sag uns, wer Leon ist“, meinte Sarah und strich ihm die Haare aus der Stirn.

„Ein Junge aus der Parallelklasse. Sie ist voll in ihn verknallt. Er hat alle auf seine Geburtstagsparty heute Nachmittag eingeladen und Leni kann ja nun nicht hingehen. Jetzt ist sie ständig am Heulen, weil Jenny ebenfalls auf ihn steht und Leni Angst hat, dass Jenny ihn ihr auf dieser Party wegschnappt.“

„Der erste Liebeskummer ist schlimm“, sagte Sarah.

„Es wird vorübergehen“, meinte Melvin.

Sarah beugte sich näher zu ihrem Mann und flüsterte: „Ich habe erst kürzlich gelesen, dass bei Teenagern ernsthafte Psychosen entstehen können, wenn man sie aus ihrer gewohnten Umgebung reißt. Das kann so weit gehen, dass sie die Stadt, in der sie dann leben müssen, für immer hassen.“

„Jetzt übertreibst du aber.“

„Ich habe ein ungutes Gefühl, Melvin. Vielleicht ist der Umzug doch keine gute Idee.“

„Fang du nicht auch noch an. Es reicht schon, dass Leni ständig deswegen meckert. Mein alter Boss hat mich gehasst. Das weißt du. Ich wäre in der Firma keinen Schritt mehr weitergekommen. Wir werden das hinbekommen, Sarah. Du wirst schon sehen. Und Leni wird schnell Anschluss finden.“

„Da bin ich mir nicht so sicher. Die anderen Mädchen in Landshut werden keine bunt gefärbten Haare haben und mit zerrissenen Jeans herumlaufen. Die neue Schule wird von Klosterschwestern geführt. Was, wenn sie wirklich keine Freunde findet oder gemobbt wird?“

„Niemand wird unsere Tochter mobben. Sie wird jedem, der es versucht, ein blaues Auge schlagen.“

„Nicht hilfreich“, murmelte Sarah und sah auf die Straße, die sie mit jedem Kilometer weiter fort von ihrem alten Leben und der damit verbundenen Sicherheit brachte.

„Das sind deine Nerven. Du hast dein ganzes Leben in Berlin verbracht. In Landshut wird alles neu sein. Und dann noch Lenis Geschichte über einen Serienmörder. Du hast Angst vor den Veränderungen. Aber mach dir keine Sorgen, das schaffen wir. Du wirst sehen, alles wird gut werden. Solange wir einander haben, kann uns nichts Schlimmes geschehen.“

Sie seufzte und versuchte sich wieder auf die Vorteile des Umzugs zu konzentrieren. „Du hast Recht. Ich freue mich darauf, in einer kleinen Stadt zu wohnen. Weit weg von unseren Eltern, die sich ständig in unser Leben einmischen und denen wir nie gut genug sind.“

„Als ich das letzte Mal mit Vater gesprochen habe, schien er wenigstens von meiner neuen Stelle beeindruckt zu sein. Zumindest von meinem Jahresgehalt und den Boni, die ich bekomme.“

„Wenigstens etwas. Und ich bin weit weg von dem Elternbeirat des Gymnasiums.“

Melvin schnaubte. „Diese Frauen haben dich nie akzeptiert. Ich weiß, wie sehr du darunter gelitten hast, keinen Anschluss zu finden.“

„Das wird in Landshut nicht so sein. Ich habe ein gutes Gefühl. Vielleicht haben wir nette Nachbarn, mit denen wir uns anfreunden können.“

„Vielleicht musst du dich einfach ein bisschen mehr anpassen“, schlug Melvin vor.

„Ich will mich aber nicht anpassen. Ich mag mich so, wie ich bin.“

„Das weiß ich, Schatz. Und ich liebe dich dafür. Ich meine nur, dass es leichter ist, wenn man sich etwas anpasst.“

„Mal sehen. Ich werde Jonas vermissen. Er ist der einzige Lichtblick in meiner Familie.“

„Dein Bruder zieht doch ohnehin bald nach London. Aber er kann uns ja vorher noch in Landshut besuchen kommen.“

Sie lehnte sich an Melvins Schulter. Zärtlich strich er ihr über die Haare. Ja, sie war froh über diesen Umzug und den damit verbundenen Neuanfang. Denn es waren nicht nur die Frauen vom Elternbeirat gewesen, die sie ausgeschlossen hatten. Obwohl sie so lange in ihrer alten Heimat gelebt hatten, war es ihr nie gelungen, Anschluss bei den Nachbarn oder anderen Müttern zu finden. Sie hatte Leni und Emil zu Fußballspielen gefahren, hatte Kuchen für Schulfeste gebacken, hatte freiwillig bei Veranstaltungen der Gemeinde mitgewirkt, aber sie hatte nie eine richtige Freundin gefunden. Der Umzug war für sie alle eine Chance auf einen Neuanfang. Im Süden Deutschlands waren sie weit fort von den Leuten, die sie kannten. Weit fort von ihren und Melvins Eltern und ihrem bisherigen Leben. Sie ließen alles hinter sich. Und Sarah fand, das war eine gute Sache.

*

„Hey, Schlafmütze, aufwachen.“

Sarah öffnete die Augen. Vor ihr lagen ein Parkplatz und ein Restaurant. Eine matschige Schrippe mit einer unnatürlich roten Wurst darin schwebte in ihr Blickfeld. Das Fett darauf glänzte in der Sonne und der Tomatenketchup roch viel zu süß. Da ihr Magen knurrte, biss sie trotzdem davon ab.

„Heute werde ich aber mit Feinkost verwöhnt“, sagte sie und verzog ihr Gesicht.

„Die Kinder wollten hier essen und ich dachte, das heitert die Stimmung etwas auf.“

„Wo sind die beiden?“

„Da hinten ist ein Spielplatz“, antwortete Melvin und deutete neben das Restaurant. „Ich habe ihnen zwanzig Minuten gegeben, um sich auszutoben, damit sie die restliche Strecke durchhalten. Scheinbar hat Leni sich in den letzten Stunden beruhigt und ist wieder unser normaler, pubertierender Wirbelwind geworden.“

„Es hat eben auch Vorteile, mit seiner Familie in einem Auto eingepfercht zu sein. So kann man nicht vor Meinungsverschiedenheiten davonlaufen“, meinte Sarah, legte die halb aufgegessene Schrippe zur Seite und brach in Tränen aus.

„Was ist denn plötzlich los?“, fragte Melvin.

„Was, wenn wir einen Fehler machen? Was, wenn die Kinder nicht glücklich sind in der neuen Stadt? Ist es egoistisch von uns, sie aus ihrem alten Umfeld zu reißen, nur damit wir beide es besser haben?“

Melvin zog sie aus dem Wagen und nahm sie in die Arme.

„Es wird alles gut. Wir alle werden in Landshut glücklich sein, ich verspreche es dir. Leni ist wahrscheinlich noch eine Weile wütend auf uns. Aber das wird sich in ein paar Wochen ändern, wenn sie neue Freunde hat und einen anderen Leon, auf den sie steht. Die Kinder werden ihre neue Schule lieben.“

„Und was, wenn uns das Haus wirklich nicht gefällt?“

„Sarah Burkhardt, du machst dir zu viele Gedanken. Weißt du was? Wenn wir angekommen sind, siehst du dir das Haus erstmal in Ruhe von außen an. Wenn du schlechte Schwingungen spürst oder ein blutverschmierter Typ mit einem Messer in der Hand im Vorgarten steht, dann kommst du zurück und wir fahren wieder nach Berlin.“

Melvin schaffte es wie immer, Sarah ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Sie wischte sich ihre Tränen an seinem weichen Flanellhemd ab und atmete seinen herben Duft ein.

„Aber wir haben den Mietvertrag für unser altes Haus schon gekündigt“, meinte sie.

Melvin zuckte mit den Schultern. „Na und? Es gibt immer eine Lösung. Schlimmstenfalls ziehen wir einstweilen zu meinen oder deinen Eltern.“

Dieser Gedanke ängstigte sie mehr, als es ein Serienmörder je gekonnt hätte. „Auf keinen Fall. Lieber lebe ich in einem Karton unter der Brücke. Nichts kann schlimmer sein, als zu unseren Eltern zu ziehen. Meine Mutter, die mir immer sagt, was für eine schreckliche Tochter ich bin und dein Vater, der uns ständig bevormunden will.“

„So schlimm sind sie doch gar nicht.“

„Ach, nein?“

„Ja, gut, sie sind so schlimm. Aber hey, jetzt sind sie ganz weit weg. Lass uns die Fahrt genießen und darüber reden, was alles schön sein wird.“

Wie immer, wenn Sarah mit Melvin über ihre Bedenken sprach, fegte er sie mit einer Beiläufigkeit beiseite, die ihm angeboren schien. Sie versank ihn seinen braunen Augen, die durch die runde Brille hindurch optimistisch auf die Welt blickten.

„Warum guckst du mich so an?“

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. „Weil ich dich liebe und unheimlich stolz auf dich bin, Herr Softwareentwickler.“

Melvin lächelte und zeigte dabei den Spalt zwischen seinen Schneidezähnen.

„Fahren wir endlich weiter?“, schrie Emil über den Parkplatz. Melvin drehte sich zu seinem Sohn um, riss sein Flanellhemd auf, entblößte das Darth-Vader-Shirt, das er darunter trug und rief mit dröhnender Stimme: „Ich bin dein Vater, Emil.“

Emil rannte zu ihm und sprang in seine Arme. Die beiden bogen sich vor Lachen. Leni trottete grinsend hinterher. Melvin hat recht, dachte Sarah. In Landshut wird alles gut werden.

*

Frühjahr 2008

Es war fast dunkel in der Küche. Nur durch einen Spalt in den Rollläden erschlich sich ein wenig Licht den Weg in das Zimmer und hob den Umriss der Frau hervor, die rauchend auf einem Stuhl in der Ecke saß. Als das Deckenlicht aufflammte, riss die Frau ihre Hände vor das Gesicht und kniff die Augen zusammen. Der Junge betrachtete die Rauchschwaden, die an der Decke durch die Küche waberten und unterdrückte ein Husten.

„Mach das Licht aus, Yannick, sofort.“

„Entschuldige, Mama“, sagte das Kind und schaltete die Lampe wieder aus. Eine Weile stand er da und beobachtete den glühenden Punkt, der jedes Mal aufleuchtete, wenn seine Mutter an ihrer Zigarette zog. Er wartete ab, ob sie etwas sagen würde. Sie schwieg. Heute war einer ihrer stillen Tage. Und obwohl er an solchen Tagen einsamer war als sonst, waren sie ihm lieber als die Tage, an denen sie ihn anschrie. Auf bloßen Füßen schlich er durch den Raum und blieb vor dem Kühlschrank stehen. Der Hunger hatte ihn aus seinem Bett in die Küche getrieben.

Abwartend, ob seine Mutter irgendeine Reaktion zeigte, blieb er vor dem Kühlschrank stehen, bis seine Füße sich wie zwei Eisklumpen anfühlten. In dem abgetragenen Schlafanzug fror er ohnehin ständig. Die Ärmel reichten nur noch bis zu den Ellbogen und die Hose endete unter den Knien. Die Hoffnung auf einen neuen Schlafanzug hatte er aufgegeben. Seine Mutter verließ das Haus nur, um zur Arbeit in dem Supermarkt an der Ecke zu gehen. Er selbst war schon lange nicht mehr draußen gewesen.

In diesem Herbst sollte er eingeschult werden. Seine Mutter hatte deshalb ein Schreiben bekommen, über das sie sich aufgeregt hatte. Er fragte sich, ob sie ihn lassen würde. Er wünschte es sich. Nicht wegen des Unterrichts. Sie hatte ihm das Lesen und Rechnen schon längst beigebracht. Aber er wollte wissen, wie es war, mit anderen Kindern zu spielen. Er konnte sich daran erinnern, wie viel Spaß es ihm gemacht hatte, auf dem Spielplatz Sandburgen zu bauen, damals, als sie die Wohnung wenigstens manchmal verlassen hatten.

Sein Magen knurrte und er legte eine Hand darauf. Wieder sah er zu seiner Mutter, von der nur ein Umriss zu erkennen war. Sie rührte sich nicht und die Zigarette war erloschen.

„Darf ich mir bitte etwas aus dem Kühlschrank nehmen?“

Wie hypnotisiert beobachtete er das gleichmäßige Blinken der Uhr über der Anrichte und wartete darauf, ob seine Mutter ihm antworten würde. Seit gestern Abend hatten sie beide nichts gegessen. Wieder knurrte sein Magen. Seine Mutter sprang auf, lief zu ihm und riss die Tür des Kühlschranks auf. „Hier“, schrie sie und warf ein Glas mit Essiggurken nach ihm, „wenn du unbedingt willst, dass sie uns sehen, dann mach die Tür ruhig auf. Stopf dich voll damit, während wir im Licht stehen.“

Das Glas zerschellte vor seinen Füßen und er klammerte sich am Tresen fest, um nicht in die Scherben zu treten. Dem Glas folgten eine halbe Wurst und eine Packung Käse. Dann nahm seine Mutter die Tüte mit dem Brot aus dem Regal und ließ die Toastscheiben auf den Boden fallen. „Na los, iss. Du bist doch hungrig. Wenn du mich entschuldigen würdest, ich gehe zur Haustür und versuche, uns vor deinem Vater zu schützen, während du dich hier vollfrisst. Ich hoffe, du bist zufrieden, wenn er kommt und mich tötet. Dann kommst du ins Heim und ich habe dir erzählt, was die Aufpasser dort mit kleinen Jungen tun, nicht wahr?“

Ungerührt starrte sie im Schein des Kühlschranklichts auf ihn herab.

„Es tut mir leid, Mama. Ich will nicht, dass er uns findet.“

Sie packte ihn an den Armen und drückte fest zu. „Uns findet? Er hat uns längst gefunden. Hörst du mir nicht zu? Dein Vater weiß genau, wo wir sind. Seine Leute stehen da draußen, Tag und Nacht. Sie überwachen das Telefon und jeden Schritt, den wir machen. Sie warten nur auf eine passende Gelegenheit und dann … peng.“

Sie schubste ihn gegen die Anrichte und er schlug hart mit dem Ellbogen an den Griff einer Schublade. Kein Laut kam über seine Lippen. Sie würde nur noch wütender werden, wenn er schrie oder weinte.

„Wir könnten das Licht aus dem Kühlschrank rausmachen“, flüsterte er und rieb sich den Ellbogen. Ein schmales Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Das ist eine vernünftige Idee“, sagte sie und strich ihm über das blonde Haar. Mit wenigen Handgriffen zog sie die Lampe heraus. Augenblicklich war das Zimmer wieder in Dunkelheit gehüllt. Als seine Augen sich daran gewöhnt hatten, sah er seine Mutter in den Flur schleichen.

„Ich hoffe, das Licht hat sie nicht angezogen. Wenn sie gesehen haben, dass wir zu Hause sind, dann sind wir noch vor dem Morgengrauen tot“, sagte sie. Er hörte, wie sie die Kommode vor die Wohnungstür schob, sich daraufsetzte und weinte. Seinetwegen. Vorsichtig fischte er die Gurken aus den Scherben und legte sie auf einen Teller, der in der Spüle stand. Das Brot warf er weg, da er die Splitter von dem zerbrochenen Glas in der Dunkelheit nicht sehen konnte. Er nahm die Wurst, spülte sie ab und packte etwas von dem Käse aus. Mit dem Teller in den Händen stand er da. Der Hunger war kaum auszuhalten. Aber solange Mutter da draußen saß, traute er sich nicht an ihr vorbei auf sein Zimmer. Er hoffte, sie würde morgen zur Arbeit gehen. Selbst in seinem Alter war ihm klar, dass sie verhungern würden, wenn sie ihren Job verlor. Aber er begriff ebenso, dass sie in Deckung bleiben mussten, wegen seines Vaters, den er nie gesehen hatte.

Er kroch unter den Küchentisch, wickelte zwei Scheiben von dem Käse um die Wurst und steckte sich alles in den Mund. Zusammengekauert aß er. Irgendwann gewann die Müdigkeit die Oberhand. Er rollte sich zusammen und schlief ein.

*

2018

Sarah war Melvins Vorschlag gefolgt, und zusammen mit Emil zum Haus gelaufen, um es sich anzusehen, bevor Sie mit dem Makler sprachen. Sie lehnte sich, auf Zehenspitzen stehend, mit der Brust gegen den Gartenzaun. Schnaufend zog sie ihre etwas zu eng gewordenen, roten Cordhosen hoch. Dabei betrachtete sie die ovale Terrasse mit der Feuerschale in der Mitte und den liebevoll angelegten Garten. Die Fliedersträucher trugen bereits die ersten Knospen und würden in wenigen Wochen in voller Blüte stehen. Das Haus selbst sah nach den knapp fünfzig Jahren aus, die es bereits dort stand. Allerdings war es genauso gepflegt wie der Garten.

„Das wirkt nicht wie das Heim eines Serienmörders“, sagte Sarah. „Allerdings, wenn man wüsste, wie Serienmörder wohnen, könnte man sie ja sofort schnappen.“

Emil verdrehte die Augen und schüttelte seinen Kopf.

„Ich höre, dass du deinen Kopf schüttelst.“

„Wie kann man Kopfschütteln hören?“

Sarah kniff ihn in seine Wangen, die, ebenso wie die ihren, Grübchen hatten. „Eine Mutter hört alles, selbst Kopfschütteln.“

Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, wobei eine zwei Zentimeter lange, geschwungene Narbe an ihrer Stirn zum Vorschein kam.

„Woher hast du die Narbe eigentlich?“, fragte Emil.

„Tut mir leid, mein Liebling. Ich kann mich nicht mehr erinnern.“

Sarahs Wangen glühten. Sie schob diesen Umstand auf die Sonne, nicht auf die Lüge, die sie ihrem Sohn gerade erzählt hatte. Emil kräuselte seine Stupsnase, was die Sommersprossen darauf tanzen ließ.

„Schade, die sieht cool aus.“

„Komm, ich heb dich hoch, dann kannst du gucken.“

Sie nahm Emil auf die Schultern und ließ ihn über die Mauer sehen.

„Und, Mr Bond, was sagen Sie?“

„Sieht gut aus, Miss Moneypenny. Warte, da kommt jemand.“

„Wer? Was siehst du?“

„Einen Mann. Er trägt einen Anzug mit einer pinkfarbenen Krawatte. Total schwul.“

„Hey, das sagt man nicht. Woher hast du das?“

„Schule.“

„Gut, dass ihr bald in eine bessere Schule geht. Ich will sowas nicht noch einmal hören, klar?“

„Ja, Miss Moneypenny. “

„Gut, Mr Bond. Was tut der Mann?“

„Er sperrt die Haustür auf. Da ist eine Frau dabei. Sie gehen rein. Jetzt macht er das Licht in allen Zimmern an und die Frau legt Papiere auf den Küchentisch.“

„Das ist wohl unser Makler. Gefällt dir das Haus?“

„Ja.“

„Puh, komm runter. Du bist schon ganz schön schwer.“ Sie ließ Emil langsam herabgleiten und schüttelte ihre Arme aus. „Willst du hier wohnen?“

Emil legte seine Stirn in Falten und rieb sich das Kinn, so wie Melvin, wenn er nachdachte. „Das Haus ist großartig. Ich finde, es passt ganz hervorragend zu uns.“

Wie so oft wunderte Sarah sich über Emils Ausdrucksweise. Von ihr hatte der Junge das nicht. Es lag mit Sicherheit an den vielen Büchern, die er las.

„Sollen wir klingeln?“, fragte sie.

Emil streckte seine Daumen in die Höhe. Die beiden klopften Staub und Gras von ihren Hosen ab und liefen zurück zum Volvo. Sarah schob ihre Brille auf den Kopf, massierte die Abdrücke auf ihrem Nasenrücken und öffnete die Beifahrertür.

„Na, alles koscher? Habt ihr einen Serienmörder gesehen?“, fragte Melvin. Leni grinste.

„Nein, alles in Ordnung. Da ist nur der Makler. Mama sagt, wir können jetzt reingehen.“

Melvin stieg aus und öffnete Leni die Tür.

„Möge unser neues Leben beginnen“, rief Emil und lief voraus.

*

„Herzlich willkommen. Ich bin Thore Schumann. Schön, dass wir uns endlich persönlich treffen. Hatten Sie eine gute Fahrt?“

Der Immobilienmakler empfing sie an der Tür. Sarah hoffte, er hatte sie nicht über die Mauer spionieren sehen. Ansonsten hielt er sie vielleicht für seltsame Leute.

Die Burkhardts begrüßten ihn nacheinander und stiegen über eine Rampe ins Haus.

„Wofür ist die?“, fragte Emil.

„Für einen Rollstuhl, du Hirni“, antwortete Leni und ließ eine Kaugummiblase platzen. „Damit können wir den Serienmörder abschreiben. Außer natürlich, er hat seine Opfer zu Tode gerollt.“

„Leni“, riefen Sarah und Melvin gleichzeitig.

Thore Schumann sah die Burkhardts fragend an.

„Tut mir leid“, entschuldigte Melvin sich. „Meine Tochter ist der festen Meinung, dass in dem Haus ein Serienmörder gelebt hat.“

Schumann lachte und winkte ab. „Keine Sorge, ich kann Sie beruhigen. Hier hat vorher eine Dame mit einer behinderten Tochter zur Miete gelebt. Beide vollkommen harmlose Frauen.“

„Sind noch mehr solcher Vorrichtungen im Haus?“, fragte Sarah.

„Am Geländer befindet sich ein Treppenlift und im Badezimmer sind einige Monturen befestigt. Der Eigentümer hat bereits eine Firma beauftragt, die sich nächste Woche sofort um den Abbau kümmern wird.“

„Ein Fahrstuhl? Cool“, rief Emil und lief ins Haus, gefolgt von seiner Schwester.

„Seid ja vorsichtig“, schrie Sarah ihnen hinterher.

Sie betraten das Haus und sahen dabei zu, wie Emil versuchte, den Lift in Gang zu bekommen.

„Warum ist diese Frau ausgezogen? Das alles so auszustatten, muss teuer gewesen sein“, fragte Sarah den Makler.

Schumann zuckte mit den Schultern. „Soweit ich weiß …“, fing er an, brach aber ab, als eine Frau aus der Küche kam.

„Da steckt sicher viel Geld drin“, flüsterte Sarah, als sie deren aufgespritzte Lippen und die Botox-glatte Haut betrachtete.

„Psst“, machte Melvin und knuffte seine Frau grinsend in die Seite.

„Herzlich willkommen in Ihrem neuen Heim. Mein Name ist Claudette, ich bin Thores Ehefrau.“

Ein halbes Dutzend Armkettchen klimperte, als sie Sarah und Melvin ihre perfekt manikürte Hand reichte. „Mein Lieber, hast du den Burkhardts schon gesagt, dass wir Nachbarn sind?“

Schumann setzte ein zerknirschtes Gesicht auf. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Aber meine Frau hat natürlich recht. Wir wohnen gleich die Straße hinunter.“

Melvin meinte: „Das ist großartig. Dann kennen wir jetzt wenigstens schon jemanden.“

Sarah setzte ein Lächeln auf, das sich so künstlich anfühlte, wie Claudette Schumanns Gesicht aussah. Sie hatte sich ihre Nachbarn anders vorgestellt. Der Treppenlift erwachte zum Leben und Emil kletterte hinein.

„Lass das und kommt her“, befahl Sarah.

„Ist schon in Ordnung. Das Zeug fliegt sowieso auf den Müll“, meinte Claudette Schumann.

Ihr Mann zeigte die Treppe hinauf. „Ihre Umzugskartons sind gestern angekommen. Claudette hat alles auf die entsprechenden Räume verteilen lassen. Wir hoffen, das ist für Sie in Ordnung. Nur die Kisten für die Kinder haben wir oben auf dem Flur abstellen lassen, da wir nicht wussten, wer in welches Zimmer möchte“, sagte er.

Der Treppenlift gab auf halber Strecke den Geist auf und Sarah blieb fast das Herz stehen, als sie ihre Kinder dabei beobachtete, wie sie darauf herumkletterten.

„Kommt jetzt her“, rief sie.

Leni und Emil kamen murrend zurück und stellten sich neben sie.

„Na schön, dann sehen wir uns mal den Rest des Hauses an, bevor wir uns um die Papiere kümmern.“

Sie folgten den Maklern durch den Flur. Neben der Haustür befand sich ein kleines Gäste-WC, wie Sarah erfreut feststellte. Daneben gab es eine Abstellkammer, in deren Regale noch einige Dosen mit Tomatensauce und Bohnen standen.

„Wie praktisch“, meinte Melvin. „Da haben wir gleich unser Abendessen.“

Die Kinder verzogen das Gesicht und die Erwachsenen lachten.

Als nächstes erreichten sie das Wohnzimmer, von dem aus man auf die Terrasse gehen konnte. Fast alle Möbel waren noch da. Das Sofa war groß genug für die ganze Familie. Außerdem gab es zwei alte, bequem aussehende Sessel, einen großen Tisch und einen Schrank, in dem noch Bücher standen. Sarah überkam ein ungutes Gefühl. Zuerst die Vorrichtungen für den Rollstuhl, dann die Vorräte in der Kammer, die ganzen Möbel und auch noch Bücher, die den Vorbesitzern doch sicher lieb und teuer sein mussten. Sie fragte sich, wie schnell die beiden Frauen ausgezogen waren und warum sie so viel zurückgelassen hatten. Auch wenn die Möbel schon mindestens halb so alt waren, wie das Haus, musste die Anschaffung von neuem Mobiliar doch eine unnötige Ausgabe sein.

„Boah, das Zeug ist sicher hundert Jahre alt“, rief Leni mit einem Blick auf das Sofa. „Warum haben die eigentlich ihren Kram hiergelassen?“, stellte sie dieselbe Frage, die Sarah im Kopf herumspukte.

Thore Schumann wollte antworten, doch seine Frau kam ihm zuvor. „Da wo sie hingezogen sind, brauchen sie die Sachen nicht. Das neue Zuhause war bereits möbliert. Und es war für sie auch einfacher und günstiger, nicht alles mitzunehmen.“

Sicherlich waren sie in eine Einrichtung umgezogen, die auf die Bedürfnisse der behinderten Tochter zugeschnitten war, dachte Sarah.

Die Schumanns führten sie die Treppen hinauf in den ersten Stock. Links befand sich ein großes Badezimmer mit einer Wanne und einer Dusche. Danach kam das Elternschlafzimmer und daneben die zwei Kinderzimmer. Sarah betrat eines der Zimmer und sah durch das Fenster auf die Nachbarschaft hinab. „Ist die Gegend hier sicher?“

Thore Schumann lächelte. „Eine der Sichersten der Stadt. Landshut ist ohnehin ein friedlicher Ort an dem wenig passiert. Vor einigen Wochen gab es mal eine Serie von Einbrüchen. Eine litauische Bande ist in mehrere Häuser eingedrungen und hat Münzen, Schmuck und Bargeld gestohlen.“

Emil machte große Augen und drückte sich an seine Mutter.

„Eine Einbrecherbande?“

Schumann wuschelte ihm durchs Haar. „Keine Angst. Das war am anderen Ende der Stadt und man hat sie alle geschnappt.“

Melvin zeigte auf die Wände. „Wie sieht es eigentlich mit der Isolierung aus?“

Sie liefen weiter durch die Räume und Melvin fragte nach eventuellen Wasserschäden, Schimmel und sonstigem Zeug, das man beim Kauf eines Hauses beachten sollte. Die Kinder zappelten gelangweilt herum.
Emil baute sich vor allen auf und rief mit theatralischer Stimme: „Beim Hören der Bürokratie wird mein Herz gar schwer und möchte schlagen nimmermehr. Zurück ins Leben würde es gebracht, beim Anblick meines neuen Zimmers unter dem Dach.“

„Wie süß“, sagte Claudette. Dabei sah sie den Jungen an wie einen Schmutzfleck auf einem Sektglas.

„Wie wäre es, wenn die Kinder sich die beiden Zimmer ansehen und du und Frau Schumann den Garten?“, fragte Melvin.

„Eine hervorragende Idee“, stimmte Thore Schumann zu. „Liebes, würdest du?“

Seine Frau hakte sich bei Sarah unter. „Los, kommen Sie, der Garten wird Ihnen gefallen. Und sagen wir doch du. Schließlich sind wir ab jetzt Nachbarinnen.“

Wie eine Gefangene führte Claudette sie ab.

*

Leni beobachtete ihre Mutter und die Frau des Maklers durch das Fenster. Während sie zusah, wie die beiden Frauen durch den Garten schlenderten, als wären sie beste Freundinnen, spuckte sie den Kaugummi aus und klebte ihn unter das Fensterbrett. Sie holte einen neuen aus der Packung und schob ihn langsam in den Mund.

Filippa, ihre eigene beste Freundin, hatte ihr getextet, dass Leon jetzt mit Jenny zusammen war. Und Schuld daran waren nur ihre Eltern. Sie hatten sie zu diesem blöden Umzug gezwungen. Wenn sie wenigstens vorher hätte auf die Party gehen können, dann wäre Leon jetzt mit ihr zusammen und nicht mit dieser doofen Kuh.

„Was machst du?“, fragte Emil von der Tür aus.

„Ich sehe zu, wie unsere Mutter und Barbie überlegen, wohin der Rosmarin kommt. Die wichtigste Entscheidung nach unserem Umzug. Wohin mit all den Kräutern.“

Emil strich mit dem Daumen über die Seitenränder seines Buches, was sich anhörte, wie Vögel, die durch das Zimmer fliegen.

„Bist du immer noch sauer?“

Leni drehte sich um und sah ihren Bruder an, als sei er ein Insekt, das zerquetscht werden musste. Instinktiv wich er einen Schritt zurück. Seufzend ließ sie sich auf eine der Kisten sinken, die sie vom Flur hereingeschoben hatte und fragte: „Warum bist du eigentlich nicht wütend? Wirst du Elias und Amir nicht vermissen?“

Emil betrat das Zimmer und ließ sich im Schneidersitz auf den Boden sinken. „Natürlich werde ich sie vermissen. Ich habe seit dem Kindergarten fast keinen Tag ohne die beiden verbracht. Aber für Mama und Papa ist die Entscheidung wichtig. Jetzt müssen sie sich endlich keine Sorgen mehr wegen des Geldes machen und Mama hat eine super Küche zum Backen. Ich will nur, dass die beiden glücklich sind. Sie tun so viel für uns, jetzt können wir etwas zurückgeben.“

Leni ließ eine Kaugummiblase platzen, und stupste das Buch im Schoss ihres Bruders mit dem Zeh an. „Kleiner, du liest eindeutig zu viel. Du redest, als wärst du ein Erwachsener. Und weißt du, wozu mich das macht?“

Emil sah zu ihr auf und schüttelte den Kopf.

„Zu einer unreifen großen Schwester.“

Sie sah an seinem Gesichtsausdruck, dass er überlegte, ob er in Schwierigkeiten steckte und besser abhauen sollte. Aber sie verschonte ihn. Schließlich war es nicht seine Schuld, dass er mit so viel Grips geboren worden war. Auch wenn seine Klugscheißerei sie schrecklich nervte.

„Magst du dein Zimmer?“, lenkte sie das Gespräch in eine andere Richtung. Lächelnd nickte Emil. „Die kleine Ecke mit der Dachschräge gefällt mir. Da werde ich mein Bett hinstellen. Meinst du, wir dürfen die Zimmer überhaupt nehmen, die wir uns ausgesucht haben?“

Leni rutschte von der Kiste, ließ eine weitere Kaugummiblase platzen, und sah wieder aus dem Fenster. Ihre Mutter und Barbie waren verschwunden.

„Mama und Papa schulden uns was. Sie werden sich nicht trauen, nein zu sagen. In der nächsten Zeit werden sie alles dafür tun, um ihr schlechtes Gewissen uns gegenüber zu erleichtern. Das müssen wir für uns nutzen. Kapiert?“

Sie nahm ihm das Buch aus der Hand und schlug es ihm sanft auf den Kopf.

„Kapiert.“ Emil versuchte nach dem Buch zu greifen.

„Verschwinde, du Kröte“, sagte Leni und warf es auf den Flur.

Als Emil ihr Zimmer verlassen hatte, schloss sie die Tür und setzte sich auf das Bett. Sie nahm ihr Smartphone heraus und scrollte durch Leons Instagram Bilder. Auf den letzten zwei Bildern, die er gepostet hatte, war er bereits mit Jenny zu sehen. Auf einem davon schnitt er gemeinsam mit ihr seinen Geburtstagskuchen an.

„Gott, ich muss gleich brechen.“ Lenis Magen zog sich zusammen und ein unangenehmer Druck lag auf ihrer Brust. Eine Mischung aus Scham, Hilflosigkeit, Trauer und Wut ließ ihr Herz rasen. Als sie das nächste Foto von Leon betrachtete, auf dem er einen Arm um Jennys Schultern gelegt hatte, verspürte Leni außerdem noch ein weiteres Gefühl. Das Bedürfnis nach Rache. Sie würde es ihren Eltern heimzahlen. Noch hatte sie keine Idee, wie. Aber ihr würde schon etwas einfallen.

*

„Vielleicht sollten wir uns alle duzen, wo wir doch Nachbarn sind“, schlug Thore vor.

„Gerne“, rief Melvin und Sarah nickte.

„Also, dann wünschen wir euch eine angenehme erste Nacht in eurem neuen Zuhause.“ Thore legte einen Arm um die Hüften seiner Frau und führte sie aus dem Haus.

„Ich möchte noch ein Wort mit Sarah wechseln, Liebling“, meinte Claudette, und gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie ihr folgen sollte. Erstaunt begleitete Sarah die Frau des Maklers hinunter an die Straße.

„Ich finde dich nett, Sarah.“

„Oh, vielen Dank.“

Nach einem Blick in Claudettes abwartendes Gesicht fügte Sarah hinzu: „Ich finde dich ebenfalls nett.“

„Schön, dann wäre das geklärt. In dieser Straße halten wir Frauen zusammen. Alle. Aber nur drei Nachbarinnen gehören meinem engsten Kreis an. Dem inneren Zirkel sozusagen. Wir treffen uns regelmäßig zu gemeinsamen Unternehmungen. Es ist ein Vorteil, wenn man Freundinnen hat, auf die man sich verlassen kann.“

Wieder sah sie Sarah an und wartete auf eine Antwort. Sarah bekam heiße Wangen und ihre Denkfähigkeit reduzierte sich auf null, so wie früher im Elternbeirat, wenn die anderen Frauen ihr ausnahmsweise Beachtung schenkten. Sie hatte keine Ahnung, was diese Claudette von ihr erwartete.

„Das, ähm, das klingt schön“, sagte sie mit einem, wie sie hoffte, freundlichen Lächeln.

„Das ist es auch. Hier in der Straße sind wir sechzehn Frauen, Sarah. Aber nur wir vier teilen diese besondere Freundschaft. Weißt du, was das bedeutet?“

Sarah betrachtete ihre Nachbarin. Die schicke Kleidung, den teuren Schmuck, den perfekten Haarschnitt, das Make-up. Sie hatte sich immer einen engen Freundeskreis gewünscht. Aber war Claudette Schumann jemand, mit dem sie befreundet sein wollte?

„Meine liebe Sarah“, fuhr Claudette fort und hakte sich bei ihr unter. Sie zeigte die Straße hinauf.

„Das hier ist mein Revier. Ich kenne jeden Einzelnen, der hier wohnt. Nichts geschieht ohne mein Wissen. Meine Clique entscheidet, wie es hier läuft. Klingt das nicht wundervoll?“

Sarah bekam Gänsehaut und nickte verhalten.

„Möchtest du nicht ebenfalls meine Freundin sein, Sarah?“

Wieder nickte sie, obwohl sie gern davongelaufen wäre. Aber Melvin hatte Recht. Wenn sie nicht erneut so enden wollte, wie in Berlin, musste sie sich anpassen, so gut es eben ging.

„Gut, das freut mich. Natürlich kann ich nicht jeden aufnehmen. Das verstehst du doch?“

Sie nickte weiter, obwohl ihre Nachbarin sie gar nicht ansah. Claudette drückte ihren Arm fester an sich. Sarah hatte das Gefühl, gleich zu ersticken und hoffte, sie würde bald von ihr ablassen.

„Ich bin gewillt, dich als meine neue Freundin aufzunehmen. Allerdings muss das mit der restlichen Clique besprochen werden. Dazu müssen die anderen dich kennenlernen.“

Endlich ließ sie ihren Arm los, nahm Sarah an beiden Schultern und sah ihr forschend in die Augen.

„Bist du bereit, dich unserem Aufnahmeritual zu unterziehen?“, fragte Claudette. Da sie zu keiner anderen Reaktion mehr fähig schien, nickte Sarah.

„Gut“, rief Claudette und küsste sie links und rechts auf die Wange. „Dann sehen wir uns morgen.“

Sie gab Sarah frei und winkte ihrem Mann.

„Wir sind so weit, Thore. Gute Nacht, Melvin. Es war nett, euch kennenzulernen. Sarah und ich werden uns prächtig verstehen.“

„Dann sehen wir uns morgen beim Notar“, meinte Thore.

Melvin legte einen Arm um Sarahs Schultern.

„Ja, bis morgen.“

Sie winkten den Schumanns nach, bis sie außer Sichtweite waren.

„Das lief alles prima“, sagte Melvin.

Sarah nickte und lächelte verkrampft. Scheinbar waren das ihre zwei neuen Standardbewegungen. Nicken und lächeln.

*

„Jetzt essen wir erst einmal etwas Leckeres“, rief Melvin.

„Aber wir haben ja noch gar nichts im Haus“, meinte Sarah.

„Doch, haben wir. Darum hat Leni sich gekümmert.“

„Aber wie denn?“

„Sie hat es online bestellt. Es sollte jeden Moment geliefert werden.“

Wie auf Kommando klingelte es an der Tür und ein Mann übergab ihnen vier Schachteln mit herrlich duftenden Pizzen.

„Wie gut, dass ihr mitgedacht habt“, meinte Sarah und suchte in den Umzugskartons nach Tellern und Besteck. Bei dem Gedanken daran, die Bohnen aus der Vorratskammer zu essen, war ihr nicht wohl gewesen.

Die Kinder kamen ins Zimmer gestürzt. Emil deckte den Esstisch, Leni setzte sich auf einen der Hocker vor dem Tresen und starrte auf ihr Smartphone. Sarah verkniff sich einen Kommentar. Der heutige Tag war anstrengend genug gewesen, sie wollte keinen Streit mit ihrer ohnehin gereizten Tochter beginnen. Emil durfte die Pizzen verteilen.

„Morgen kochen wir aber etwas Anständiges“, meinte Sarah.

„Jaaa“, rief Emil, „etwas Bayerisches.“

„Schweinebraten und Klöße?“, schlug Sarah vor.

„Das nennen die hier Knödel, Mama“, wusste Emil Bescheid.

„Dann eben Knödel.“

Leni nahm ein Stück Pizza und gab einen undefinierbaren Brummlaut von sich. Auch während des Essens kam kein Wort über ihre Lippen. Im Gegensatz zu Emil, der sich bereits ausmalte, wie sein erster Tag in der neuen Schule ablaufen würde. „Die legen dort viel Wert auf musikalische Erziehung. Darf ich Gitarre spielen lernen?“

Melvin warf Sarah einen Blick zu und zuckte mit den Schultern. „Ich wüsste nicht, was dagegenspricht.“

Emil strahlte. „Klasse! Bekomme ich dann eine eigene Gitarre? Gleich morgen?“

Sarah schüttelte mit dem Kopf. „Jetzt meldest du dich erst einmal an und probierst es aus. Und wenn es dir nach ein paar Stunden immer noch gefällt, dann kaufen wir dir eine.“

„Deal!“ Emil griff nach dem letzten Viertel seiner Pizza und stopfte es glücklich in sich hinein. Leni schob ihr angebissenes erstes Stück auf dem Karton herum, während sie ununterbrochen durch irgendwelche Bilder scrollte.

Nach dem Essen räumten sie gemeinsam die notwendigsten Dinge aus den Umzugskartons. Todmüde fielen die Kinder drei Stunden später in die frischbezogenen Betten und auch Sarah zog sich mit Melvin ins Schlafzimmer zurück.

„Bist du glücklich, Frau Burkhardt?“, fragte Melvin, als sie in ihrem neuen Bett lagen.

„Das bin ich“, antwortete Sarah. „Aber Leni hat kaum etwas gegessen.“

„Das wird schon wieder.“

„Sie ist noch dünner geworden, als sie ohnehin schon war.“

„Ich werde morgen mit ihr sprechen. Sollte sie tiefer gehende Probleme haben, werde ich es herausfinden. Aber ich bin überzeugt davon, dass sie uns nur ein schlechtes Gewissen wegen des Umzugs machen will.“

Melvin kuschelte sich an Sarah und sah zusammen mit ihr aus dem Dachfenster über dem Bett.

„Wie findest du das Haus?“

„Es gefällt mir wirklich sehr“, sagte sie und sah zu ihm auf.

Er beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie auf den Mund.

„Hast du Heimweh?“, fragte er.

„Ein wenig. Aber ich weiß, ich kann hier glücklich werden. Ich liebe das Haus. Es ist alt, aber man sieht, dass die Vorbesitzerin sich sehr gut darum gekümmert hat. Und solange mit den Kindern alles in Ordnung ist, ist mit mir auch alles okay.“

Melvin löschte das Licht und zog sein Shirt aus. Sarah löste den Haargummi aus ihrer Lockenmähne und fuhr sich durch ihre Haare, bis sie locker über ihre Schultern fielen.

„Das ist unser zweites erstes Mal“, flüsterte sie in Melvins Ohr.

„Weil wir uns das erste Mal in einem neuen Haus lieben?“

„Und in einem neuen Bett.“

„Dann hoffen wir, es ist stabil genug.“

Fordernd zog Melvin sie in seine Arme. Sie schmiegte sich an ihn und er küsste sie leidenschaftlich.

"Ich sorge dafür, dass du dich schneller eingewöhnst“, flüsterte er in Sarahs Ohr. Seine Hände wanderten unter ihr Shirt und Sarah spürte kleine Stromschläge bei der Berührung. Sie seufzte auf als Melvins Finger den Weg in ihr Höschen fanden.

„Ich bin schon jetzt sehr glücklich hier“, sagte Melvin mit vor Lust rauer Stimme. „Ich auch. Oh Gott, ich auch“, stöhnte Sarah.


Nachdem sie sich geliebt hatten, sah sie wieder aus dem Fenster hinaus auf die Sterne. Sie lagen nah beisammen, die Hände fest ineinander verschlungen. Für einen Moment vermisste sie das Knarren des alten Bettkastens und den Geruch von Mottenkugeln, der immer aus dem klapprigen Schlafzimmerschrank gekommen war. Ihr fehlte das Quietschen der Dielen, wenn die Kinder in der Nacht über den schmalen Flur auf die Toilette geschlichen waren. Wehmut überkam sie und sie schüttelte ihren Kopf, um ihn von diesen Gedanken zu befreien. Sie konzentrierte sich auf all die wunderbaren Dinge, die sie in ihrem zukünftigen Leben erwarteten. Dann schloss sie die Augen und lauschte auf Melvins Atem und die fremden Geräusche des Hauses, das jetzt ihr neues Heim war.

*

Der Anruf kam vor dem Morgengrauen. Das Läuten schreckte Sarah aus dem Tiefschlaf. Benommen setzte sie sich auf und warf einen Blick zu Melvin, der auf der Seite lag und schnarchte.

Nervös schlüpfte sie in ihre Häschen-Hausschuhe – ein Geschenk ihrer Kinder zum Muttertag - und suchte nach dem Telefon. Sie konnte sich nicht erinnern, am Abend davor eines gesehen zu haben. Außerdem fragte sie sich, wer um diese Zeit einen Grund hatte, anzurufen. Desorientiert stolperte sie die Treppe nach unten und fand letztendlich einen Festnetzanschluss auf dem Flur. Das Telefon stand hinter einem der Umzugskartons. Deshalb war es ihr auch nicht aufgefallen. Es war grün und mindestens dreißig Jahre alt. Sie nahm den Hörer ab und hielt ihn an ihr Ohr.

„Hallo?“

Aus der Leitung kam nur Stille. Dann hörte sie jemanden atmen.

„Hallo? Hier spricht Sarah Burkhardt.“

„Fehler“, flüsterte eine raue Stimme.

„Wie bitte? Wer ist denn da?“

Es klackte in der Leitung, als der Anrufer auflegte.

Zitternd warf Sarah den Hörer zurück auf das Telefon. Sie drehte sich um und rannte ins Schlafzimmer. Die Häschen-Ohren an ihren Hausschuhen flappten bei jedem Schritt. Schlitternd kam sie neben Melvin zum Stehen und rüttelte ihn wach.

„Was ist los? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“

„Es hat jemand angerufen.“

„Wer denn?“, fragte Melvin und sah auf sein Handy.

„Nicht bei dir. Auf dem Festnetz.“

„Wir haben doch gar kein Telefon angemeldet.“

„Vielleicht ist es noch der Anschluss der vorherigen Eigentümer.“

„Und wer war dran?“

„Der Serienmörder!“, rutschte es Sarah raus.

„Was?“, lachte Melvin.

„Fehler. Er hat gesagt, wir haben einen Fehler gemacht.“

„Einen Fehler? Ich verstehe nicht.“

„Bestimmt meint er, dass es ein Fehler war, in sein Haus zu ziehen. Es ist falsch, dass wir das Haus kaufen, Melvin!“

„Ach, Unsinn. Erstens hat hier kein Serienmörder gelebt, sondern eine harmlose Frau mit ihrer Tochter. Und zweitens hat sich wahrscheinlich nur jemand verwählt oder wollte diese Frau sprechen, die vor uns hier gewohnt hat. Deshalb hat er Fehler gesagt.“

„Meinst du?“

„Aber ja.“

Erleichtert ließ Sarah sich neben Melvin gleiten. Er nahm sie in den Arm und drückte sie an sich.

„Ist vielleicht auch gar nicht so schlecht. Ich kann die Nummer der Schule geben und du kannst mich auch erreichen, bis wir einen neuen Anschluss haben.“

Melvin küsste sie auf den Mund. „Na siehst du? Es hat alles einen Vorteil. Und wo wir nun schon wach sind, können wir auch aufstehen und Kaffee trinken.“

Er schlüpfte aus dem Bett und zog sich an. In der Küche setzte er Kaffee auf und Sarah räumte weitere Kartons aus. Sobald sie ihre Backutensilien in den Händen hielt, ging es ihr gleich besser. Sie beschloss, warme Zimtschnecken zum Frühstück zu backen. So wie andere Leute sich sofort zuhause fühlten, sobald sie einen Fernseher einschalteten, fühlte Sarah sich daheim, sobald sie ihre Hände voll Mehl und den Duft frischen Teiges in der Nase hatte.Sie schüttete die Zutaten in die Schüssel und machte sich ans Werk. Bestimmt hatte Melvin recht und der Anrufer hatte sich nur verwählt. Denn bei einem war Sarah sich sicher. Es war kein Fehler gewesen hierher zu ziehen!

*

Emil wachte auf. Zuerst wusste er nicht, wo er war. Das Mondlicht schien auf die falsche Seite des Zimmers und über seinem Bett fehlte das Bücherregal. Dann erinnerte er sich daran, dass sie nicht mehr in Berlin lebten. Er sah auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass es kurz vor Sonnenaufgang war. Schlaftrunken schlüpfte er aus dem Bett. Er schlich den Flur entlang und zog fröstelnd seine Schultern hoch. Die Tür zu Lenis Zimmer stand einen Spalt weit offen. Zögernd blieb Emil stehen und warf einen Blick hinein. Seine Schwester saß aufrecht auf dem Bett, ihr Smartphone in der Hand. Ihr Gesicht sah in dem hellen Licht des Displays wie eine Grimasse aus. Obwohl er seine Schwester liebte, hatte er manchmal Angst vor ihr. So wie jetzt. Warum schlief sie nicht, so früh am Morgen?

Seine Blase meldete sich und er schlich leise davon, bevor Leni ihn bemerkte.

Im Badezimmer war es warm und er blieb gedankenverloren auf der Toilette sitzen. Er hörte unten das Telefon läuten. Dann die kleinen, schnellen Schritte seiner Mutter. Sie hob ab, aber ihre Stimme war leise. Er verstand nicht, was sie sagte. Er tappte zur Tür und sah auf den Flur hinaus.

„Wie bitte? Wer ist da?“

Scheinbar sagte niemand etwas. Seine Mutter legte auf. Emil wusch sich die Hände und eilte auf sein Zimmer.

Beim Vorbeigehen warf er einen weiteren Blick zu Leni hinein. Seine Schwester saß in unveränderter Haltung. Aber jetzt lächelte sie. Er verzog sich in sein warmes Bett und kuschelte sich in die Decke, bis ihm der Geruch frischer Hefeteilchen in die Nase stieg.